Wolkengaukler
Er ist ein Teil meiner Familie. Die war mir ohnehin zu klein.“ Damit drückte sie mir die obligatorischen französischen Abschiedsküsse auf die Wangen – links und rechts und noch einmal links – und entschlüpfte durch die halbgeöffnete Tür.
Meine Mutter war noch immer in meinem Zimmer, als ich zurückkam. Gedankenverloren betrachtete sie die Poster an den Wänden: Musikgruppen, Schwimmer, auch ein oder zwei Zeichnungen von mir, die ich spontan aufgehängt hatte. Ich wartete eine Weile schweigend ab, ob sie vielleicht selbst das Gespräch wieder aufnehmen würde. Schließlich seufzte sie: „Bon Jovi! Die hörst du immer noch?“ Ich nickte, aber ich wusste, dass es nicht das war, was sie eigentlich wissen wollte. Sie drehte sich zu mir um: „Wann hört das auf, Jann?“
Meinte sie jetzt meine Sympathie für die Rockgruppe oder etwas anderes? Ich antwortete lieber erst einmal nicht, sondern setzte mich wieder aufs Bett, stopfte mir das Kopfkissen hinter den Rücken und lehnte mich dann gegen die Wand. Es war lange her, dass wir beide das letzte Mal so beieinander gesessen hatten, im Schein der Nachttischlampe; so lange vertraut und jetzt irgendwie fremd.
Sie schaute auf ihre Hände herab, die sie im Schoß gefaltet hatte. Eigentlich mehr ineinander verknotet, verschraubt, verkrampft. Sie sprach weiter: „Ich finde das alles irgendwie schade. Ich meine .... die Situation mit dir und ... Christoph. Vorhin, als ich das Mädchen – also Celine – da auf deinem Bett gesehen hatte, da habe ich gedacht, .... na ja, ich hatte mir gewünscht, es wäre anders, so, wie es sein sollte, du weißt schon. Ach, es ist alles so kompliziert!“ Sie seufzte wieder, strich sich eine Strähne aus der Stirn und setzte erneut an: „Weißt du, ich hatte mir das ganze so schön vorgestellt, mit einer netten Schwiegertochter, mit der ich auch mal reden könnte, so von Frau zu Frau. Die vielleicht einmal wie die eigene Tochter sein könnte. Später dann vielleicht eine tolle Hochzeit, und noch später, wer weiß, vielleicht sogar Enkel. Ja, ich weiß, das ist noch lang bis dahin.
Aber als ich euch beide vorhin so sah, da war diese Vision zum Greifen nah. Und dann sagst du plötzlich, sie wäre Christophs Schwester, und mit einem Mal ist der Traum zerplatzt wie eine Seifenblase. Er ist in deinem Leben schon so fest verankert, dass es gar nicht mehr anders zu gehen scheint. Ich sehe jetzt, dass die Zukunft nicht so sein wird, wie ich sie mir erträumt habe, und das ist schon – hart. Ich weiß nicht, wie ich jetzt damit umgehen soll ...“
Ich fühlte mich plötzlich wie ausgebrannt. Diese Gedanken meiner Mutter waren völlig neu für mich. Warum hatten wir nie darüber gesprochen? Warum hatten wir uns nie die Zeit dafür genommen, unsere Zukunftsvisionen auszutauschen, anstatt sie jeder für sich allein in seinem Kopf wie eine Festung aufzubauen, stolz und wunderschön, aber gleichzeitig unerreichbar. Hinter der sich jeder vor dem Alltag verschanzte, aber auch vor den Gefühlen und Wünschen des anderen. Über den ‚normalen’ Weg mit Hochzeit und Kinderkriegen hatte ich bisher noch nie nachgedacht. Das war mir einfach noch nicht wichtig gewesen. Christoph etwa? Keine Ahnung! Und ich hatte auch keine Ahnung gehabt, dass meiner Mutter das so wichtig gewesen war. Und momentan hatte ich überhaupt keine Ahnung, wie ich mit dieser Situation fertig werden sollte.
Meine Mutter sprach wieder weiter: „Ich hätte nicht gedacht, dass mein Neffe sich wieder so in mein Leben drängen würde.“ Ich zog die Augenbrauen zusammen. Was wurde das denn jetzt?
„Versteh mich nicht falsch! Ich mag ihn sehr, auch wenn wir bisher wenig direkten Kontakt hatten. Aber ich wusste immer gut über seinen Werdegang Bescheid; dass er studiert und nach Kanada gehen wollte, fand ich mutig. Ich dachte, vielleicht würde ein bisschen von diesem Mut auf dich abfärben, wenn ich dich zu ihm schickte. Ich hoffte, er würde dir ein bisschen unter die Arme greifen, dich etwas selbstständiger und vor allem selbstsicherer werden lassen. Na ja, im Grunde ging der Plan ja auch auf, nur nicht in die Richtung, an die ich gedacht hatte.“ Sie lächelte gequält. „Und nun kommst du mit all den Geschichten zurück, die ich seit Jahren versuche, in mir zu begraben, zu verdrängen, zu vergessen.“
Ihr Blick fiel auf mich und glitt doch durch mich hindurch, durchdrang Tapete und Mauerwerk hinter mir auf der Suche nach etwas, das jenseits dieses Raumes und
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