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Wolkengaukler

Wolkengaukler

Titel: Wolkengaukler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anett Leunig
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hier zu sein! Bei euch. Also los, lasst uns nach Hause gehen! Ich habe Hunger!“
    Wir hakten uns gegenseitig unter und marschierten übermütig lachend zum Ausgang. Kurz bevor sich die Glastüren hinter uns schlossen, wandte ich mich noch einmal um, weil ich das Gefühl hatte, dass uns mehr als nur zufällige Blicke folgten. Doch hinter mir sah ich nichts anderes als unser Spiegelbild in der Scheibe.

XI
    Die Ereignisse der letzten sechs Monate an einem Abend zu erklären war fast so unmöglich, wie ein Leben innerhalb eines Augenblicks zu durchlaufen. Nach dem Abendessen saßen wir zu viert am Küchentisch bei Kerzenschein und einem guten Glas Wein und redeten. Immer wieder flogen Christophs Augen von einem zum anderen, während er fragte, zuhörte, es auf sich wirken ließ und wieder fragte. Es schien, als wollte er die Dinge, die er hier verpasst hatte, binnen weniger Minuten ganz in sich aufsaugen. Stundenlang erzählten und erklärten wir, ließen dabei die Situationen, Gedanken und Gefühle Revue passieren, durchlebten noch einmal die Verwirrungen, das Misstrauen, den süßen Schrecken der Erkenntnis und die bange Angst um seine Rückkehr. Dennoch wurden dabei nur die wesentlichsten Punkte in Kürze angerissen. Für mehr reichten einfach die Zeit und auch unser aller Nerven nicht mehr aus, die ohnehin schon seit Tagen wie Drahtseile gespannt waren.
    Ich erklärte Christoph, warum meine Mails in der letzten Zeit immer spärlicher und konfuser geworden waren, erzählte ihm von dem ganzen Durcheinander in meinem Kopf und meinem Herzen, wie ich Celine gefunden und schließlich erkannt hatte. Zum ersten Mal lieferte ich dabei die vollständige Version mit dem Beinahe-Kuss, mit einem etwas mulmigen Gefühl, was er zu meinem Ausrutscher wohl sagen würde. Aber er grinste nur amüsiert zu seiner Schwester hinüber, die im Gesicht leicht rosa angelaufen war, und meinte dann ganz trocken: „Na gut, Süßer, ich glaube, diesen kleinen Seitensprung kann ich dir guten Gewissens verzeihen!“
    Seine Mutter erzählte von ihrer Verzweiflung und ihrer Angst, als er plötzlich den Kontakt abgebrochen hatte und ihr fast verloren gegangen war. Sie legte keinen Vorwurf in ihre Stimme, doch auf seinem Gesicht spiegelten sich unendliche Traurigkeit und Reue darüber, ihr ungewollt soviel Kummer zugefügt zu haben.
    Auch Celine hatte in den letzten Wochen mehr als nur Schmetterlinge im Bauch gehabt. Sie war völlig durcheinander gewesen, weil es mit mir scheinbar zunächst klappte und dann doch wieder nicht, und sie nicht hatte erkennen können, woran das lag – bis ich das Geheimnis gelüftet hatte. Und weil sie plötzlich dort, wo vorher nur unbekannte Fremde gewesen waren, einen Freund und dann sogar eine ganze Familie gefunden hatte!
    Doch viele Fragen blieben noch offen. Auch Christoph hatte eine Menge über seine Zeit in Montreal zu berichten, spannende Geschichten, die unbedingt erzählt werden wollten. Ich spürte förmlich, wie sie unter seiner Haut prickelten und in seinem Kopf brodelten. Doch dafür würde es in den nächsten Tagen noch ausreichend Gelegenheiten geben, denn Celine und ich würden die Winterferien hier verbringen. Eine Woche Christoph – ich war wahnsinnig glücklich!
     
    Endlich lagen wir zusammen im Bett. Eigentlich auf der Couch in Christophs Wohnzimmer, die wir für uns beide zu einem Bett ausgezogen hatten. Celine schlief nebenan in Christophs Zimmer. Die kleine Nachttischlampe neben uns verbreitete ein diffuses, warmgelbes Licht.
    Wir lagen einander gegenüber, nackt, den Kopf jeweils auf den angewinkelten Arm gestützt, und schauten uns an, wort- und regungslos. Ich studierte jeden Zentimeter seines Gesichts, nahm jede Zuckung seiner Augäpfel wahr, sah, wie sich sein Brustkorb bei jedem Atemzug hob und senkte. Sogar das Pulsieren seiner Halsschlagader konnte ich erkennen. Wie hatte ich diese intime Nähe vermisst!
    Sechs Monate lang von etwas zu träumen und es dann tatsächlich wieder zu erleben, das war schon sehr aufregend! Ich dachte an unsere erste gemeinsame Nacht, und wie damals schlug mir das Herz bis zum Hals – vor Glück, Aufregung und Neugier, was jetzt wohl passieren würde.
    Christoph schien ebenso nervös und unschlüssig zu sein wie ich, obwohl er natürlich versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. Seine Augen sprangen hin und her, als könnten sie sich nicht entscheiden, in welche meiner Pupillen sie sich versenken wollten.
    Dann hob er eine Hand und fuhr mir mit dem

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