Wolkentaenzerin
dass Mom irgendwohin gefahren ist. Als sie gestern angerufen hat, war es ganz windig, als ob sie draußen wäre. Im Hintergrund waren Stimmen, und sie klang verwirrt und müde. Ich habe dreimal versucht, zu Hause anzurufen, aber niemand ist rangegangen.
Bevor wir losgefahren sind, habe ich sie von der Treppe aus gesehen, als sie dachten, ich würde gerade meine Sachen aus meinem Zimmer holen. Mom hat geweint. Dad hat sie nicht in den Arm genommen, aber ihr mit der Hand über die Schulter gerieben. Ich habe gehört, wie er gesagt hat: »Das wird dir bestimmt guttun. Für mich persönlich wäre so was nicht das Richtige, aber es kann nicht schaden.« Als ich ihn später danach gefragt habe, hat er so getan, als wüsste er nichts davon.
Weihnachten war in Ordnung. Ich glaube, ihr hat das Bild von Anna gefallen, aber ich weiß nicht, ob es wirklich eine so gute Idee war. Ich hatte es mir ganz schnulzig vorgestellt: Sie macht es auf, ihr bleibt die Luft weg, sie lächelt. Dann umarmt sie mich und sagt: »Wie wunderschön, Lizzie, danke. So können wir uns ganz wunderbar an sie erinnern.« Und dann reden wir darüber, wie sehr sie uns fehlt, und schwelgen vielleicht in ein paar lustigen Erinnerungen.
Es lief aber ganz anders: Als Mom das Bild auspackte, holte sie tief Luft und riss die Augen auf, als ob sie eine von diesen Naturkatastrophensendungen im Fernsehen sehen würde. Sie saß so lange so da, dass ich mich schon gefragt habe, was passieren würde, wenn sie weiteratmete. Nach bestimmt mindestens einer Minute hat sie gelächelt und langsam gesagt: »Danke schön, was für eine gute Malerin du bist. Ich muss mir noch überlegen, wo ich es wohl aufhänge.«
Dann ist sie nach oben gegangen. Als Dad mich abholte, um bei ihm Weihnachten zu feiern, habe ich versucht, sie aufzuwecken, um mich zu verabschieden. Aber neben ihrem Bett stand eine leere Flasche »Cola«, und ich glaube, sie hat nicht mal gemerkt, dass ich gegangen bin.
15. Juni 1980
Herzlichen Glückwunsch zu meinem Geburtstag! Ich habe ein gutes Gefühl für mein 17. Lebensjahr. Mom und Dad haben mir etwas zusammen geschenkt: eine Fahrradtour diesen Sommer, die von der Künstlervereinigung, wegen der ich ihnen so auf die Nerven gegangen bin. Den ganzen Juli über radele ich durch Colorado, mache Malkurse und schlafe in Jugendherbergen. Und wenn ich zurückkomme, sehe ich mir Colleges an, manche mit Mom, manche mit Dad.
Mom geht es viel besser. Seitdem ich in Florida war, benimmt sie sich fast wie eine ganz normale Mutter. Sie hat einen Job bei einer Werbeagentur bekommen und war seit Weihnachten nicht mehr krank. Ich habe sie auch einfach gefragt, wo sie hingefahren ist, als ich in Florida war. Sie behauptet natürlich, sie sei zu Hause gewesen, aber sie wurde ganz nervös und überfreundlich. Vielleicht hab ich mir das auch nur eingebildet. Jedenfalls wird das wohl auch eins der Themen sein, über die wir nicht sprechen.
Sie hat irgendwann auch das Bild von Anna aufgehängt. Wenn ich davorstehe, erinnere ich mich daran, dass es auch mal eine Zeit gab, in der ich nicht allein war, und das ist ein gutes Gefühl.
26. August 1980
Komme gerade zurück von der NYU. Als ich auf den Campus kam, wusste ich sofort, dass ich dorthin gehöre, auch wenn mir klar ist, dass weder Mom noch Dad das wollen. Ich sehe mich schon in Greenwich Village sitzen und die Leute und Häuser malen. Ich finde es toll, wie außer Kontrolle und rau und unordentlich alles ist, so ein Ort, an dem das wirkliche Leben tobt.
Die Pizzeria lag am Stadtrand und war einfach und günstig. Die Hitze aus der Küche drückte die Luft in Dunstschwaden herein. Die Industrieventilatoren zeigten wenig Wirkung, bliesen nicht einmal die Staubränder auf ihrem Gehäuse fort. Kate schob sich verschwitzte Haarsträhnen aus der Stirn und sah Chris über den Resopaltisch hinweg an.
»Ich kann es nicht fassen, dass wir das Haus für sieben ganze Wochen haben.«
»Du meinst, du kannst es nicht fassen, dass ich sieben Wochen lang nicht ins Büro gehe.« Er trank den letzten Schluck Wasser aus seinem Becher und ließ die Eiswürfel darin klimpern.
»Was glaubst du, wie oft du wegmusst?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich muss ich nicht öfter als einmal die Woche fliegen.«
Kate hielt den Blick auf die Tischplatte gesenkt. Sie fummelte an dem gläsernen Käsestreuer herum und schlug die Kante gegen die graue Beschichtung.
Er lächelte schief. Was war das denn? Normalerweise beschwerte sie sich nicht über
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