Wolkentaenzerin
seine Reisen.
»Ich habe nicht die ganze Zeit Urlaub. Das wusstest du doch.«
»Ja, ich weiß. Ist schon okay.« Winzige Flugzeuge, die von einer Seite auf die andere taumelten. Sie verzog keine Miene.
»Nicht jedes Mal über Nacht. Die meiste Arbeit wird von Boston aus sein diesen Sommer, aber manchmal werde ich mir auch ein Zimmer nehmen müssen.«
Als sie jünger waren, hatten sie diese Art von Kommentar über Leute gemacht, die in der Öffentlichkeit heftig rumknutschten. Nehmt euch doch ein Zimmer! Sie grinste ironisch.
»Kate.« Er hatte sie missverstanden. »Wenn ich länger wegbleiben muss, kann ja vielleicht deine Schwester herkommen.«
Rachel lebte noch in der Nähe ihrer Eltern in Palo Alto, hatte geheiratet und sich dort niedergelassen und war mittlerweile über die Universität von Stanford hinaus bekannt für ihre Forschungen zur Wirtschaftlichkeit des Mindestlohns. Sie drängte Kate immer wieder dazu, irgendwohin zu fliegen und sie zu treffen, »nur wir beide«, ohne dabei zu bedenken, dass das mit Kindern nicht leicht zu organisieren war. Rachels Bereitschaft, in ihrem hektischen Terminplan mit Lehre und Konferenzen Platz für ihre kleine Schwester zu schaffen, ihre einzige Schwester auf der ganzen Welt, schien jegliche Schwierigkeit zu übertrumpfen, die Kate damit haben mochte, kleine Kinder und einen reisenden Ehemann zurückzulassen.
Ihre Ausflüge, wenn sie es denn einmal fertigbrachten, planten sie mit den besten Absichten. Es schwang immer die Hoffnung mit, schwesterliche Nähe aufbauen zu können und den Altersunterschied zu überbrücken, diese vier Jahre, die Rachel in jeder Hinsicht so weit voraus erscheinen ließen. Schwieriger zu überbrücken aber waren die Verletzungen, die Kate als Kind von Rachel erfahren hatte, das gönnerhafte Lob über Kates Noten, das nur allzu deutlich machte, dass für Kate andere Maßstäbe galten. Und in seltenen grausamen Momenten Sätze wie: Man weiß eben NIE, was man bei einer Adoption bekommt , gemurmelt mit verwunderter Unschuldsmiene. Zu behaupten, dass ein jüngeres Geschwisterkind heimlich adoptiert worden war, gehörte natürlich zu den Gemeinheiten, mit denen Kinder sich gegenseitig quälten. Und als Kate den Beweis dafür gebraucht hatte, dass es nicht stimmte, hatte sie gewusst, wo sie die Fotos von ihrer Mutter während der Schwangerschaft finden konnte. Und trotzdem. In einer Familie, die in schnell aufflackernden Diskussionen aufblühte und intellektuelle Schlagfertigkeit schätzte, war Kate eine Außenseiterin gewesen, und Rachels Worte hatten weh getan.
Geistige Brillanz ging nicht immer mit gesellschaftlicher Gewandtheit einher, und Rachel war nicht der pflegeleichteste Partygast, weder gut in belangloser Konversation noch leicht zu amüsieren. Manchmal fragte sich Kate, ob die Entscheidung ihrer Schwester gegen Kinder das Ergebnis ihrer intellektuellen Leistungen war oder andersherum. Kate fand, dass Kinder großzuziehen bedeutete, Absurdes und Alltägliches würdigen zu wissen – die schlechten Wortspiele wie auch den Töpfchen-Humor – oder es zumindest zu tolerieren.
Und dennoch ließ sich eine enge Verbindung zwischen ihnen nicht leugnen. Ob es nun ihr Talent, andere nachzuahmen, oder der trockene Humor waren oder die Erinnerungen, die sie aus unbeschwerteren Kindertagen wachrief, Kates Gegenwart brachte eine seltene Mädchenhaftigkeit in Rachel zum Vorschein. Rachel besaß ein bezauberndes Lachen, das erstaunlich ungestüm sein konnte und geradezu unbekümmert glücklich klang. Wenn ihr Vater es hörte, sah er stets von seiner Arbeit in seinem mit Büchern vollgestellten Büro auf, nahm seine Brille ab und betrachtete die beiden lächelnd. In diesen Augenblicken war seine Freude offensichtlich, all seine Hoffnungen und Wünsche waren erfüllt, sollte sein gefährdetes Herz am nächsten Tag aufgeben. Aber für Kate war es auch ein anstrengender Tanz mit ihr in der Rolle der Witzigen als Ausgleich für die Schlaue.
»Darf ich malen, solange wir auf die Pizza warten?«, fragte James, und Kate gab ihm einen ihrer Notizblöcke aus ihrer Tasche.
»Ich auch. Lass uns Galgenraten spielen, Mom«, sagte Piper mit der Begeisterung von jemandem, der nicht wusste, was er nicht wusste, und den es auch nicht kümmerte. Sie hielt den Stift zwischen ihren vom Malen auf der Fähre dunkel verfärbten Fingern und malte sieben horizontale Striche unter einen vereinfachten Galgen. Das gesuchte Wort kannte wahrscheinlich nur Piper
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