Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)
die Kinder längst wieder fort und lagen vermutlich schon in ihren Betten.
Um keinen Verdacht zu erregen, hatte ich Jutta nichts vom Kaninchen erzählt und es vorsorglich in mein Zimmer gesperrt. Dort schien es regelrecht aufzublühen. Schon nach kurzer Zeit waren alle Holzmöbel zerkratzt. Statt wie vorgesehen im Pappkarton, hatte es sich auf dem Bett bequem gemacht, und auch sonst verhielt es sich eher wie eine Katze denn wie ein Kaninchen.
Kurz nachdem Jutta das Haus am Morgen verlassen hatte, ging ich in den Supermarkt und kaufte Süßigkeiten und einen großen Geburtstagskuchen. Ich hatte beschlossen, Zoe einen besonders schönen Geburtstag auszurichten. Da ich nicht viel über Kindergeburtstage wusste – meine eigenen hatte ich mangels Freunden nie feiern können und auf andere Geburtstage wurde ich aus denselben Gründen nicht eingeladen – , informierte ich mich im Internet über die neuesten Entwicklungen. Statt Blinde Kuh und Topfschlagen gehörten jetzt Würstchenschnappen, Tuchfangen und Herr Fischer zu den Favoriten. Lediglich Sackhüpfen hatte es noch in die Liste geschafft.
Ich bereitete alles vor, baute auf der Terrasse den Geburtstagstisch mit Süßigkeiten auf, blies zwei Dutzend Luftballons auf, hängte sie an einer Schnur quer über den Garten und steckte neun Kerzen in den Kuchen.
Mittags döste ich zwei Stunden auf dem Sofa. Als ich irgendwann vom Türklingeln aufschreckte, brauchte ich länger als sonst, bis ich wieder zu mir kam.
Vor der Tür standen nicht weniger als zehn Kinder, Jungen und Mädchen, die mich erwartungsvoll ansahen.
»Du hast gesagt, dass ich noch jemanden mitbringen kann«, sagte Zoe, als sie meinen skeptischen Blick sah. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass sie dieses »jemand« so großzügig ausgelegen würde. Da ich sie nicht wieder zurückschicken mochte, ließ ich sie eintreten.
Im Gänsemarsch liefen die Kinder durchs Haus. Vorbei an den kostbaren Möbeln und Accessoires, den sorgfältig ausgesuchten Bildern und Erinnerungsstücken.
Auf der Terrasse liefen sie sofort zum Geburtstagstisch und bedienten sich bei den Süßigkeiten. Insbesondere die Jungs griffen hemmungslos zu und nahmen so viel, wie sie mit zwei Händen bekommen konnten, während die Mädchen eher abwarteten oder lediglich ein Stück Schokolade aßen. Schnell verklumpten die Mädchen zu Mädchen- und die Jungen zu Jungengruppen.
Das alles kam mir auf einmal bedrückend vertraut vor. Es war wie eine Erwachsenenparty, nur lauter, direkter und schamloser. So wie sie heute eine Handvoll Schokoladenkekse in den Hosentaschen verschwinden ließen, würden sie in fünfundzwanzig Jahren Steuern hinterziehen und, anstatt sich Marsriegel aus den Händen zu reißen, gegenseitig ihre Frauen ausspannen. Das Leben erschien mir plötzlich wie eine endlose Wiederholung des Immergleichen. Ich wusste nicht, ob es eine Frage des Alters war, dass die Wiederholungen auf einmal so deutlich erkennbar wurden. Ich wusste nicht, ob es an mir lag, dass ich schneller ermüdete als früher, wenn ich dieser Wiederholungen gewahr wurde. Was ich wusste, war, dass ich für all das nicht mehr die nötige Geduld aufbrachte.
»Ist das dein Haus?«, hörte ich plötzlich die Stimme eines Jungen, der mit einem Strauß Lutscher neben mir stand. Er wirkte ein wenig altklug. Merkwürdigerweise erinnerte er mich an Gunnar Fahrenkamp.
Ich nickte.
»Und hast du auch eine Frau?«
Ich nickte wieder.
»Dann bist du sehr reich, oder?«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte ich immer noch verblüfft über die Ähnlichkeit, die ich mir sicherlich nur einbildete.
»Weil wenn man ein Haus und eine Frau hat, muss man reich sein.«
»Aha«, machte ich. »Willst du später auch mal reich sein?«
»Ja klar!«, sagte er ohne zu zögern. »Fünf Häuser und zehn Frauen.«
»Für jedes Haus zwei Frauen, falls mal eine wegläuft«, erläuterte ich seine maßlosen Wünsche. Ich fragte mich, ob es ihn später unglücklich machen würde, wenn er erfuhr, dass seine Ziele für ihn unerreichbar waren.
»Ja klar«, fuhr er begeistert fort, »und zwanzig Autos, die darf ich aber nur alleine fahren.«
Je länger ich ihn reden hörte, desto mehr verwandelte er sich in eine kindliche Ausgabe von Gunnar Fahrenkamp. Belustigt stellte ich mir vor, dass ich mich in einer Zeitmaschine befand, die uns vierzig Jahre zurückversetzt hatte. Als Einziger durfte ich mein Alter behalten und war berechtigt, den Nachmittag nach meinen Ideen zu
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