Wollust - Roman
aber er hört nicht auf
mich.« Birenbaum blickte von dem Anmeldeformular auf, das Gabe im Wartezimmer ausgefüllt hatte. »Rina hat mir erzählt, du bist Pianist?«
»An meinen besten Tagen, ja.«
»Und du hast dir deine Hand in einem Kampf verletzt?« Der Doktor sah ihn missbilligend an.
»Er wurde von einem Straßenräuber angegriffen«, verteidigte Rina ihn.
Birenbaum sah ihn an. »Wow, das ist ja gruselig. Hat er dich außer an der Hand noch anderswo verletzt?«
»Nein, nur die Hand. Und das kam, weil ich ihn geschlagen hab. Ich glaub, ich hab etwas übertrieben.«
»Na ja, Gott sei Dank war’s ein Faustkampf und keine Schießerei.« Gabe machte sich nicht die Mühe, ihn zu korrigieren. »Keine anderen gesundheitlichen Probleme?«
»Mir geht’s gut, bis auf die Pickel. Gestern hatte ich diesen Megaausbruch.«
Der Doktor sah sich seine Stirn genauer an. »Kürzere Haare wären schon hilfreich.«
»Wahrscheinlich.«
»Ich kann dir ein Rezept für eine Creme mitgeben.« Er legte die Akte nieder. »Ich werde dich jetzt kurz untersuchen.«
Er nahm Gabes Blutdruck und Puls, hörte die Lunge ab, leuchtete in die Augen und Ohren und den Hals. Rina war von seinem sorgfältigen Vorgehen beeindruckt. »Okay, junger Mann«, sagte Birenbaum schließlich, »dann lass mich den Schaden mal begutachten.«
Gabe reichte ihm die linke Hand, und der Doktor besah sie sich genau. »Große Hände. Wie groß bist du?«
»Eins achtzig.«
»Und wie alt?«
»Fast fünfzehn.«
»Also wirst du noch ein bisschen wachsen.« Er bog die
Hand in alle Richtungen. »Eine leichte Prellung, das steht fest.« Er streckte die Finger und verdrehte das Handgelenk. »Gebrochen ist nichts.« Auf der Suche nach den empfindlichen Stellen drückte und zerrte er an der Hand und notierte sich, wann der Junge das Gesicht verzog. »Irgendwo ein Taubheitsgefühl?«
»Nein.«
»Irgendwelche Schmerzen, wenn du den Arm oder die Finger ausstreckst?«
»Nein.«
»Hast du versucht, Klavier zu spielen?«
»Seit der Verletzung nicht mehr.« Eine Pause. »Ich hab die letzten fünf Tage wirklich nicht mehr gespielt, außer Sie nehmen die Begleitung des Schulchors dazu, aber für mich zählt das nicht.«
Birenbaum musste lachen. »Ich habe mich auf professionelle Musiker spezialisiert und besitze deshalb einen Instrumentenraum, in dem auch ein elektronisch verkabelter Flügel steht. Während des Spiels eines Musikers bekomme ich anhand des Protokolls eine Vorstellung von seinen Händen und Fingern, ihren Defiziten und Stärken. Wenn du ein ernst zu nehmender Musiker bist, würde ich gerne das Spiel deiner Hände auswerten.«
»Klar.«
Der Arzt begleitete sie den Flur hinunter in einen schalldichten Raum. An den Wänden lehnten eine Geige, ein Cello, eine Gitarre, eine Oboe, ein Saxophon und eine Trompete. Der Flügel stand mitten im Zimmer, ein Steinway, dessen weiße Tasten mit bunten Aufklebern versehen waren: die C rot, die D blau, die E grün. So ging es immer weiter, die gesamte Farbskala durch. »Ich setze den Flügel auch bei vielen meiner Patienten ein, die nicht Klavier spielen«, erläuterte Birenbaum. »Deshalb sind die Tasten farblich markiert. Falls du die Ablenkung erträgst,
gehe ich jetzt hinter das Fenster, wo sich meine gesamte Ausrüstung befindet, und höre deinem Spiel von dort aus zu. Fang bitte nicht an, bevor ich dir das Startzeichen geben, okay?«
»Klar.«
Er nahm Rina mit in eine Kabine, in der es aussah wie in einem Tonstudio. Auf einem der Stühle saß ein Mann Mitte sechzig, der außer einem grauen Pferdeschwanz eine Glatze hatte. Er war mittelgroß und hatte ein rundes Gesicht und dunkle Augen. Birenbaum stellte ihn als Nicholas Mark vor. Der Mann stand auf und bot Rina seinen Stuhl an.
»Danke, nicht nötig«, sagte Rina.
»Bitte setzen Sie sich.«
Rina tat wie geheißen. Birenbaum fummelte an einigen Kontrollknöpfen herum. Er sprach in ein Mikrofon. »Hörst du mich, Gabe?«
»Klar.«
»Normalerweise bitte ich die Pianisten, Chopins ›Fantaisie-Impromptu‹ zu spielen, weil die meisten es auswendig können und es lang genug ist, damit ich ein aussagekräftiges Protokoll erhalte. Die Notenblätter befinden sich in der Sitzbank, auch andere Stücke, falls du dieses nicht spielen möchtest. Sobald deine Hand schmerzt, hörst du auf.«
»Okay.«
»Die Notenblätter sind in der Sitzbank«, wiederholte er.
»Ich kenn das Stück.« Gabe richtete die Sitzbank so aus, dass er die Pedale bequem erreichen konnte. Er
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