Wollust - Roman
nahm seine Brille ab, rieb sich die Augen und setzte die Gläser wieder auf. Seine Hände flogen über die Tasten hin und her. »Schöner Flügel.«
»Du kannst jederzeit beginnnen.«
Der Junge antwortete nicht, sondern starrte nur ein paar Augenblicke lang ins Leere. Dann hob er seine linke Hand und hielt die Augen halb geschlossen, während er zu einer Serie Arpeggios ansetzte.
Rina fiel die Kinnlade herunter.
Während der folgenden fünf Minuten und vierzehn Sekunden wurde sie in eine andere Welt versetzt. Sie hatte einige klassische Konzerte besucht, aber da sie nicht sehr musikalisch war, konnte sie sich kaum daran erinnern. Aber bei diesem Jungen hier war irgendetwas anders. Nie zuvor hatte sie gehört, wie jemand ein Klavier mit so einer Technik, so einem Anschlag und so viel Gefühl bespielt hatte.
Als es vorbei war, sagte niemand ein Wort. Nicholas Mark, der Mann mit dem Pferdeschwanz, der auch noch in der Kabine war, fand als Erster seine Sprache wieder. »Matt, frag ihn, ob er eine der Etüden Opus 10 von Chopin kennt.«
Birenbaum räusperte sich am Mikrofon. »Die Stärke deiner Finger wird sehr gut aufgezeichnet. Kennst du eine der Etüden des Opus 10 von Chopin?«
»Klar.« Der Junge dachte einen Moment nach. »Oder wie wär’s mit einer der Transcendental-Etüden von Liszt?«
Mark nickte. »Liszt ist genauso gut«, sagte Birenbaum.
»Oder eine der Grandes Etudes von Paganini? ›La Campanella‹. Ich mag das Stück, und es sollte Ihnen einige Infos über die Stärke meiner Hand liefern.«
»Sag ihm, er soll sofort aufhören, falls er auch nur den geringsten Schmerz verspürt.«
»Okay, Gabe«, sagte Birenbaum, »aber pass auf deine linke Hand auf. Sobald es sticht, hörst du sofort auf zu spielen. Hier geht es um deine Hand.«
»Klar.« Wieder starrte Gabe ein paar Momente ins Leere und rückte die Bank für seine Füße in die richtige Position. Die Etüde begann mit ein paar leichten Anschlägen, schritt dann aber rasch mit einer exquisiten Serie fort, die wie Glockenläuten klang, wobei die rechte Hand des Jungen einen Kilometer weit für eine Serie blitzschneller Triller die gesamte Tastatur hinauflief, und endete in einem stürmischen Höhepunkt.
Es war ein wunderschönes und anspruchsvolles Musikst ück mit einem breiten emotionalen Spektrum, doch Rina hatte das Gefühl, dass Gabe es sich ausgesucht hatte, weil es, mehr als alles andere, Virtuosität demonstrierte. Vier Minuten und zweiunddreißig Sekunden später war sie wieder sprachlos.
Dieses Juwel war ihr anvertraut worden.
Gabe rieb sich hinter seinen Brillengläsern die Augen. »Eine riskante Sache, ich war nicht richtig gut, aber auch nicht richtig schlecht. Ich hab ein paar Fehler gemacht. Meine linke Hand ist definitiv nicht auf der Höhe. Aber das wird wieder, oder?«
Birenbaum räusperte sich am Mikrofon. »Ich denke schon. Ich bin sofort bei dir, Gabe.« Matt wandte sich seinem Freund mit Pferdeschwanz zu. »Das ist ja fast übernatürlich.«
»Das kann man wohl sagen. Woher kommt er?«
Beide sahen Rina an.
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Also, was hältst du von ihm, Nick?«
»Was ich von ihm halte?« Der Mann zuckte mit den Achseln. »Der Junge ist der Wahnsinn.«
33
Zum ersten Mal erlebte Rina, dass der Junge seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Zu schade, dass es sich bei dem Gefühl um Angst handelte. Er riss die Augen weit auf und atmete hektisch, und sein Blick war auf Nicholas Mark geheftet: »Haben Sie mir zugehört?« Dann sah er Rina an: »Und haben Sie das ausgeheckt?«
»Was denn ausgeheckt?«, fragte sie.
»Niemand hat hier etwas ausgeheckt«, beschwichtigte Mark ihn. »Ich bin nur zufällig für eine Untersuchung meiner eigenen Hand hier. Dr. Birenbaum bat mich zuzuhören.«
»Ich kann viel besser spielen!«, sagte Gabe. »Das war mistig!«
»Mist«, korrigierte Rina ihn.
»Mistig. Mist. Jedenfalls kann ich besser spielen, das schwör ich. Meine Hand ist nicht ganz auf der Höhe. Das soll jetzt keine Entschuldigung sein. Ich weiß einfach nur, dass ich besser spielen …«
»Entspann dich.« Mark legte eine Hand auf die Schulter des Jungen.
»Entschuldigen Sie meine Unwissenheit, aber sind Sie Pianist?«
»Nicholas Mark«, erklärte Birenbaum, »ist nicht nur ein berühmter Pianist, sondern steht an der Spitze der modernen Komponisten für Klavier.«
»Das ist ja toll«, sagte Rina. »Wir suchen gerade einen Klavierlehrer …«
Der Junge brachte zwischen zusammengebissenen
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