Wollust - Roman
selbst.«
»Ich auch.« Sie lächelte wieder. »Gabe, du siehst erschöpft aus. Möchtest du heute Morgen lieber ausschlafen, und ich bringe dich nachmittags in die Schule?«
»Es geht schon. Aber danke.«
»Hast du Hunger?«
»Nicht wirklich.« Stille. »Vielleicht leg ich mich noch mal für eine halbe Stunde oder so hin.«
»Das ist eine gute Idee.«
»Okay.« Er machte eine Pause. »Danke, dass Sie mich aufgenommen haben und so.«
»Das ist überhaupt kein Problem. Die Betten sind sowieso immer frei.«
»Wie alt sind Ihre Söhne?«
»Mitte zwanzig. Mein ältester Sohn, Samuel, macht gerade seinen Abschluss in Medizin und wird Assistenzarzt in New York. Bei Jacob blicke ich nicht so ganz durch. Er hat einen Abschluss als Bioingenieur, arbeitet aber als Rechtsbeistand. Jacob hat schon immer sein eigenes Ding durchgezogen.«
Gabe nickte. »Ja … dann, noch mal danke.«
In diesem Augenblick betrat Decker die Küche. Er sah den Jungen an. »Du bist früh auf. Oder vielleicht bist du ja auch nie ins Bett gegangen.«
»Ich fühl mich okay.« Betretenes Schweigen. »Ich leg mich dann noch mal kurz hin.«
»Bist du sicher, dass du dich nicht ausschlafen willst?«, fragte Rina erneut.
»Geht nicht.« Er lächelte aufrichtig. »Befehl vom Lieutenant.«
»Weißt du, es gibt da noch einen höheren Dienstgrad als Lieutenant«, klärte Rina ihn auf. »Er heißt Ehefrau.«
»Danke, aber es wird schon reichen. Bis gleich.« Gabe verließ die Küche und wusste, dass sie, sobald er weg war, über sein Schicksal entscheiden würden.
»Der Kaffee duftet.« Decker setzte sich an den Küchentisch.«
»Wie gut für dich, dass ich genug für uns beide aufgesetzt habe.« Sie reichte ihm eine dampfende Tasse. »Was möchtest du zum Frühstück?«
»Wie wär’s mit einem funktionierenden Gehirn?« Er schlug sich gegen die Stirn. »Was habe ich mir bloß dabei gedacht, mich auf Terry einzulassen? Dumm, dumm, dumm.«
»Du konntest sie doch nicht damit alleinlassen, Peter. Manchmal muss man sich einmischen. Und ist es nicht gut, dass du genau das getan hast? Du hast ein reines Gewissen, und Gabe hat eine Bleibe.« Sie setzte sich neben ihn. »Habe ich dir jemals erzählt, dass meine Eltern eine meiner Freundinnen bei uns aufnahmen, als ich fünfzehn war?«
»Nein. Was war passiert?«
»Sie hatte schon längst keinen Vater mehr, und ihre Mutter beging Selbstmord, in der Zeit, als ich sie kannte. Sie hatte einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Der Bruder sorgte bereits für sich selbst, und die jüngere Schwester wurde bei Verwandten untergebracht, aber die mittlere Tochter, meine Freundin, konnte nirgendwo hin. Ich habe also meine Eltern gefragt, ob sie sie nicht aufnehmen könnten.«
»Und was haben sie gesagt?«
»Ja, ohne auch nur einen Moment zu zögern. Sie lebte ein Jahr bei uns. Dann ging sie für zwei Jahre an die Ostküste. Dann kam sie wieder zurück und lebte noch mal sechs Monate
bei meinen Eltern, nachdem ich geheiratet hatte. Sie bei uns zu haben, war nicht immer leicht für mich. Phasenweise war ich wütend auf meine Eltern, dass sie zugestimmt hatten, sie aufzunehmen, obwohl ich ja selbst darum gebeten hatte. Manchmal hatte ich das Gefühl, jemand sei in meinen Raum eingedrungen. Aber ich bereute es nie, diese Frage gestellt zu haben. Und meine Eltern handelten so, weil sie wunderbare Menschen sind und als Schoah-Überlebende wahrscheinlich wussten, was es bedeutete, völlig auf sich gestellt zu sein.«
»Was ist aus dem Mädchen geworden?«
»Seltsamerweise weiß ich das nicht. Wir haben den Kontakt verloren. Sie heißt Julia Slocum. Sie war noch nicht einmal Jüdin. Ich hatte sie in einem Kunstkurs nach der Schule kennengelernt, als wir vielleicht so zwölf waren. Wir freundeten uns schnell an, weil sie albern und schlau war und immerzu lachte. Es muss eine schwere Zeit für sie gewesen sein, aber sie ließ sich nie etwas anmerken.«
»Deine Eltern sind einfach spitze.«
»Stimmt.« Rina schwieg einen Moment. »Ich weiß nur, dass sie geheiratet und Kinder bekommen hat. Sonst nichts, und offensichtlich war ich nie neugierig genug, mehr in Erfahrung zu bringen. Die Freundschaft gehörte in diese damalige Zeit. Meine Eltern fühlten sich moralisch verpflichtet zu helfen, und das taten sie dann auch.«
»Ich weiß, worauf du hinauswillst.«
Sie nahm seine Hand. »Indem du dich eingemischt hast, hast du genau das Richtige getan.« Eine Pause. »Und jetzt zu unserem aktuellen Problem.
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