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Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)

Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)

Titel: Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz W. Werner
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letzten Drücker in den Laden hinein. Drinnen entdeckte ich eine dm-Mitarbeiterin, ging auf sie zu und sagte: »Guten Abend, ich bin der Herr Werner.« Sie kannte mich nicht, erwiderte aber ganz freundlich: »Guten Abend, da weiß ich aber nicht, ob ich Ihnen weiterhelfen kann.« Also stellte ich ein paar harmlose Fragen, um die Situation aufzulockern: »Wie lange sind Sie schon bei uns? Was sind Ihre Aufgaben? Wie zufrieden sind die Kunden mit unserem Angebot?« Nichts Spektakuläres also, ganz ohne jeden Hintergedanken. Aber in diesem Zusammenhang verwies die zurückhaltende Mitarbeiterin plötzlich auf die Filialleiterin und sagte ganz bescheiden: »Ich bin ja nur eine geringfügig Beschäftigte.«
    In diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Plötzlich war mir klar: »Hier läuft etwas grundfalsch!« Da steht jemand in unserem Laden, in den wir einen Haufen Geld investiert haben, und diese im Moment für uns und den Kunden wichtigste Person, beschreibt sich selbst mit einem spröden Terminus aus der Lohnsteuertabelle. Sie hätte alle meine Fragen locker beantworten können, aber sie hat sich nicht getraut, weil sie im Kopf hatte: Da oben sind die Chefs, dann kommen die Bezirksleiter, dann die Filialleiter, alles wichtig, wichtig, wichtig, und dann irgendwann komme ich. Und ich bin bloß eine geringfügig Beschäftigte.
    Bei der Weiterfahrt nach Karlsruhe ging mir das durch den Kopf: Es gibt viele Gründe, eine geringfügige Beschäftigung anzunehmen, etwa weil man sich zu Hause um die Kinder kümmern will oder einen Angehörigen pflegt und man deswegen nur wenige Stunden in der Woche arbeiten will. Aber die Einstufung in einer Lohnsteuertabelle darf doch nicht die Wertigkeit der Arbeit bestimmen! Da machten wir was grundfalsch. Das war evident. Aber wie machte man es denn richtig?
    Je länger ich über diese Situation nachsann, desto klarer wurde mir: Wir müssen das System umgekehrt denken: Der Mitarbeiter redet mit dem Kunden. In diesem Moment ist der Mitarbeiter der Wichtigste; alle anderen sind aus dieser Perspektive nur rückwärtige Dienstleistende. Und plötzlich war mir klar: Wir dürfen das Unternehmen nicht von oben nach unten denken, sondern wir müssen es von außen nach innen denken. Und die Mitarbeiter müssen erleben, dass es auf jeden Einzelnen von ihnen ankommt, auch wenn sie nur wenige Stunden pro Woche bei dm arbeiten.
    Nun gibt es manchen Manager, der sich solche Gedanken verbietet, aus lauter Angst, dass sein Denken eine Konsequenz hat. Er fürchtet, dass die Mitarbeiterin sich – gleich einem Tier – auf die Hinterbeine stellt und mehr Geld fordert. Vielleicht sagt sie selbstbewusst: »Ich bin hier die Wichtigste, denn ich rede mit dem Kunden. Und du, Boss, bist nur ein rückwärtig Dienstleistender! Deswegen will ich mehr Geld verdienen.« Weil er darauf keine Antwort weiß, verbietet sich der Manager alle vorherigen Gedanken. Er müsste sonst sein gesamtes Weltbild hinterfragen.
    Denn er verknüpft etwas, das nicht zusammengehört. Er verkoppelt Arbeit und Einkommen. Und er verkoppelt Einkommen und Wertschätzung. Und das ist absurd: Wir beschäftigen die Menschen doch bei dm, weil sie für uns dringend notwendig sind. Und wenn jemand dringend notwendig ist, hat er bei uns einen Arbeitsplatz. Deswegen kümmern wir uns um ihn. Deswegen bekommt er jeden Monat sein sicheres Einkommen – und zwar das, was wir leisten können. Wenn jetzt alle geringfügig Beschäftigten dreimal so viel Lohn bekämen, dann wären wir drei Wochen später pleite. Das Lohnniveau regelt der Markt. Aber man kann doch Menschen nicht für die Tatsache, dass sie wenige Stunden arbeiten und dafür wenig Lohn bekommen, obendrein auch noch mit fehlender Wertschätzung und Missachtung quittieren.
    Jeder Mensch, der morgens aufwacht, hat mindestens zwei Gründe, warum er heute liegen bleiben sollte. Wir müssen den dritten Grund liefern, damit er sagt: »Ich stehe auf, ich werde gebraucht, auf mich kommt es an.« Wenn wir ihn schlecht behandeln, wird er aufwachen und sagen: »Für die bin ich sowieso nur kleines Rädchen im Getriebe, da kann ich heute auch liegen bleiben.« Als Gemeinschaft ist es unsere Aufgabe, jedem Mitglied unserer Gemeinschaft – und im Unternehmen heißt das jedem Kollegen, jeder Kollegin – so viel Sinn zu vermitteln, dass er oder sie sagt: »Wenn ich heute nicht aufstehe, dann sind nicht nur meine Kollegen enttäuscht, sondern da bleiben auch Sachen liegen, die nur ich machen

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