Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)
nicht Waren, die achtlos in der Ecke stehen, sondern im Gegenteil besonders wichtige Produkte, von deren Preisen angeblich der Kunde das Preisniveau des gesamten Geschäftes ableitet. Vereinfacht gesagt spricht man vom »Eckartikel-Effekt«, wenn der Kunde denkt: Aha, die Butter ist billig. Dann ist auch alles andere billig!
Da sich niemand die Preise von allen Produkten merken kann, merkt er sich eben nur zwei, drei Eckartikel, die er selbst besonders häufig kauft und die es möglichst überall gibt. Wie Brot, Butter, Milch, Kaffee, Schokolade. Bei Fruchtjoghurt wird die Sache schon komplizierter, weil es da unendlich viele Größen und Geschmacksrichtungen gibt – der Preisvergleich also schwierig ist. Im Drogeriegeschäft sind das Windeln, Haarshampoo und Toilettenpapier. Waschpulver galt früher mal als Eckartikel, aber seit es so viele verschiedene Pulver-, Tabs- und Flüssigversionen gibt, ist der Status verloren.
Beim Nachdenken über die Dauerpreise und Werbemöglichkeiten standen die Eckartikel im Fokus, denn das eherne Handelsgesetz schrieb vor, dass Eckartikel besonders günstig zu sein hatten. Wieder einmal brachte mich ein Schlüsselerlebnis auf einen völlig anderen Gedanken:
Ich stand in Hörde, einem Vorort von Dortmund, an der Kasse, wie ich es gern mache, wenn ich eine Filiale besuche, und half den Kunden, ihre Waren in eine Tüte zu packen. Dabei kommt man immer ins Gespräch und erfährt so dies und das, was den Kunden an dm gefällt oder missfällt. Eine ältere Frau hatte also Edelweiß Milchzucker gekauft, ein ganz banales Produkt, das aber heute kaum noch jemand kennt. Alte Leute jedoch nehmen das gern bei Verdauungsstörungen. Im klassischen Handelsdenken ist Milchzucker dasselbe wie Kukident Haftcreme für das Gebiss – ein Randartikel, in jedem Fall kein Eckartikel. Die Frau hatte acht Packungen Edelweiß Milchzucker gekauft; ein Wunder, dass wir überhaupt so viel vorrätig hatten. Und das war das Einzige, was sie gekauft hatte. Ansonsten war ihr Einkaufskorb leer.
Das machte mich neugierig, also sprach ich sie an: »Sie kaufen aber viel Edelweiß Milchzucker.«
Da erklärte sie: »Ja, ja, das kaufe ich immer hier. Ich komme immer extra mit der Straßenbahn hierher gefahren.«
Ich hakte nach: »Mit der Straßenbahn extra hierher?«
»Ja, ich wohne im Altersheim im Dortmunder Norden. Aber ich bin ja Rentnerin. Die Straßenbahn kostet mich nichts. Deswegen fahre ich mit der Straßenbahn hier nach Hörde, um bei Ihnen den Edelweiß Milchzucker zu kaufen.«
»Warum kaufen Sie den denn bei uns?«, wollte ich jetzt genau wissen.
»Der ist bei Ihnen 20 Pfennig billiger als woanders. Deswegen bringe ich den dann noch meinen Freundinnen mit«, gab sie lächelnd Auskunft.
»Da sind Sie ja den halben Tag unterwegs«, staunte ich.
Sie winkte ab: »Das macht nichts, ich habe ja Zeit.«
Die Rechnung, die sie aufmachte, war plausibel. Zeit kostete sie nichts. Aber 20 Pfennig mal acht, das ist für eine Rentnerin viel Geld. Also lohnte sich die weite Reise.
Und dann fiel der Groschen: Für diese Frau ist Milchzucker der Eckartikel! Und deswegen stimmt die Theorie mit den Eckartikeln nicht. Jeder hat seinen Eckartikel. Das ist ganz individuell. Die preisbewusste Frau Schulz hat einen anderen als die preisbewusste Frau Schröder. Und wenn eine der beiden einmal ihre Wohnung inventarisiert, dann wird sie feststellen, dass sie wahrscheinlich ein dm-Produktspektrum von maximal 35 Artikeln hat. Und wenn man sie fragt, warum sie bei dm einkauft, dann ist es irgendeiner von diesen 35 Artikeln, weswegen es sich lohnt, zu dm zu gehen.
Jeder Artikel muss günstig sein!
Von diesem Erlebnis und dieser Erkenntnis habe ich anschließend in einer der vielen Diskussionen um den Dauerpreis erzählt. Auf diese Weise war es schnell für alle evident: Jeder Artikel, der bei uns gekauft wird, wird gekauft, weil er gebraucht wird. Wenn er nicht gebraucht würde, würde er nicht gekauft. Niemand kauft bei uns, weil er den dm-Markt unterstützen will. Die Menschen kaufen, was sie brauchen. Und das, was jemand regelmäßig braucht, ist sein Eckartikel, ob Haftcreme, Milchzucker oder Rasierklinge. Fortan haben wir das alte Paradigma vom Eckartikel aufgegeben und stattdessen gesagt: Jeder Artikel muss günstig sein!
Und wir gingen noch einen Schritt weiter. Denn ich ahnte: »Wenn wir den Milchzucker nicht nur 20 Pfennig, sondern 50 Pfennig günstiger anbieten würden, dann würden wir noch viel mehr Milchzucker
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