Womit ich nie gerechnet habe: Die Autobiographie (German Edition)
verkaufen.« Während wir früher in den Sonderangeboten überwiegend die Eckartikel und die schnell drehende Ware beworben haben, senkten wir nun dauerhaft die Preise der Nichteckartikel. Die Konkurrenz verlachte uns: »Wie kann man nur so blöd sein und diese Artikel im Preis senken, da verdienen wir doch gut daran.«
Aber diese dauerhafte Preissenkung führte dazu, dass eben noch mehr Frauen mit der Straßenbahn gekommen sind, um bei dm einzukaufen. Und manche stellte dabei fest, dass auch alle anderen Waren bei uns günstiger waren.
Die Konkurrenz kann das bis heute nicht nachvollziehen. Die meisten trommeln weiterhin auf den vermeintlich allgemeingültigen Eckartikeln herum und merken gar nicht, dass das für den Kunden, Frau Schulz und Frau Schröder, überhaupt nicht das Kriterium ist. Der Frau aus dem Altersheim ist es schnurzpiepegal, wie teuer das Waschmittel ist, weil sie ihre Wäsche nicht selbst wäscht, das macht das Altersheim.
Wir hingegen machten jeden Artikel zum Eckartikel und mussten deswegen bei jedem Artikel leistungsfähig sein – und zwar leistungsfähiger als die anderen. Bei den Artikeln, die immer in der Zeitung stehen, weiß der Kunde sowieso, dass die heute mal hier billiger und morgen mal dort billiger sind. Die Sonderangebotsjäger machen sich einen Spaß daraus, lesen jeden Tag die Zeitung von hinten nach vorne. Die sagen: Oh, so eine billige Schlagbohrmaschine! Die muss ich sofort kaufen. Obwohl sie schon drei im Keller haben.
Ausgelöst durch die Dauerpreise und die bislang nicht beantwortete Frage, wie wir fortan für dm werben wollen, stellten wir unser gesamtes Marketing erst in Frage, dann auf den Kopf. Schuld war eine neue Werbeagentur. Denn dadurch, dass die neue Agentur vollkommen unvoreingenommen auf dm blickte, mussten wir zunächst unser Geschäft erklären. Indem wir unser Geschäft erklären mussten, fingen wir an, es zu hinterfragen. Das ist der typische Lernschritt: Wer den Vortrag hält, lernt immer am meisten. Schlauer wird vielleicht der Nachhilfeschüler, schlauer wird aber ganz sicher der Nachhilfelehrer.
So war es damals auch: Obgleich wir nur mit der Frage gestartet waren, was die Alternative zur Schweinebauchwerbung sein könne, standen wir plötzlich vor der Frage, ob unser Slogan eigentlich noch stimmte. Der hieß seit 1973: »Große Marken, kleine Preise«. War das richtig? Passte das zu dm? Nein, spürten wir mit großer Sicherheit. Darum geht es doch gar nicht. Aber worum geht es denn dann?
dm tritt zur Gegenwette an
Es waren diese einfachen, aber existenziell wichtigen Fragen, die uns der damalige Deutschland-Chef der amerikanischen Werbeagentur Young & Rubicam, Ingo Krauss, damals stellte. Als er 2012 in die »Hall of Fame der Deutschen Werbung« aufgenommen wurde, habe ich die Laudatio gehalten – zutiefst dankbar dafür, dass er uns damals in dieser Umbruchsituation durch seine Fragen so wertvoll unterstützt hatte.
Seine Mitarbeiter und er zwangen uns professionell diagnostisch, uns alles noch einmal vor Augen zu führen, was wir in den letzten zwanzig Jahren erarbeitet hatten. Unser Leitbild, unsere Philosophie, unsere Führungsideale, unser Organigramm: Warum sollte denn eigentlich der Kunde zu uns kommen? Unsere Aufgabe war doch nicht, große Marken zu kleinen Preisen zu verkaufen. Das wäre mechanistisches Discounterdenken. Schwupps säßen wir wieder in der Schweinebauchfalle. Wir wollten doch den Menschen dazu verhelfen, dass sie ihre Konsumbedürfnisse befriedigen konnten. Konsumbedürfnisse veredeln. Da war es wieder. Und immer deutlicher schälte sich der Kern unseres Denkens heraus. Wir wollten den guten Menschen in den Mittelpunkt stellen, nicht seinen dunklen Drang. Wir redeten über unser Menschenbild und sprachen über den Prolog von Goethes Theaterstück »Faust«.
Wir teilten das positive Menschenbild, wie es Gott hier verkörpert, der zwar erkennt, dass der Mensch nicht frei von Fehlern ist – »Es irrt der Mensch, solang er strebt.« –, aber darauf vertraut, dass der Mensch durch die Fehler lernt und wieder auf den rechten Weg zurückfindet: »Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange / Ist sich des rechten Weges wohl bewusst.«
Mit dm wollten wir quasi die Gegenwette antreten und beweisen, dass die Menschen nicht auf die Welt kommen, um möglichst lange in der Hängematte zu liegen oder sich möglichst vollzufressen. Wir waren und sind überzeugt, dass Menschen etwas lernen wollen – nicht weil sie ausgebildet werden
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