Wood, Barbara
auf.
»Könnt ihr
mich nach Süden bringen, an die Küste?«, hatte er Jallara tags zuvor gefragt.
Es ging ihm nicht mehr darum, Pfeile und Bogen für den Clan zu fertigen oder
stabilere Unterkünfte zu bauen oder ihnen das Alphabet beizubringen, sondern
darum, ein Urbedürfnis zu stillen. »Zum Ozean? Großes Wasser im Süden?« Wenn er
den Indischen Ozean erreichte, konnte er der Route von Edward Eyre in
westlicher Richtung zumindest bis Esperance folgen, und wenn er dann von dort
aus nach Norden zog, bestand Aussicht, Sir Reginalds Weg zu kreuzen. Das auf
der Karte rot eingekreiste Galagandra fiel ihm ein. Er fragte Jallara, ob sie
davon gehört habe. Sie schüttelte den Kopf.
»Könnt ihr
mich hinbringen?«, fragte er abermals und erreichte mit Gesten und einfachen
Worten endlich, dass sie verstand. Dann verfolgte er mit bangem Herzen, wie sie
sich mit Thumimburee besprach. Während der letzten Tage, seit sein Erinnerungsvermögen
wieder lückenlos war, beherrschte Neal nur ein Gedanke: Sir Reginald zu
finden. Entsprechend erleichtert war er, als Thumimburee lächelte und
zustimmend nickte.
Als
Jallara ihm sagte: »Wir gehen«, fragte Neal: »Wann?«
Da sie
einmal mehr verständnislos die Stirn krauste, legte er die Hände an eine Seite
seines Kopfes, schloss die Augen, um ein Schlafen anzudeuten, und ahmte dann
mit einer Handbewegung einen Sonnenaufgang bildlich nach. Jallara strahlte und
reckte den Daumen nach oben, was, wie Neal wusste, die Zahl eins bedeutete. »In
einem Tag? Wir brechen morgen auf?«
»Ja,
morgen, Thulan!«
Dieser
neue Tag war angebrochen, heute würden sie den Billabong verlassen. Während
Neal mithalf, die Unterstände auseinanderzunehmen, schwor er sich, dass er,
sobald er Perth erreichte,
veranlassen würde, Jallara und ihrem Volk Nahrung, Kleidung und Medikamente
zukommen zu lassen, als Geste der Dankbarkeit, dass sie ihm das Leben gerettet
hatten.
Endlich
war es soweit, die notdürftigen Schutzdächer der dreiunddreißig Männer, Frauen
und Kinder waren zu Stockbündeln geschnürt, die Feuer gelöscht und alle Spuren,
dass sich hier Menschen aufgehalten hatten, beseitigt. Neal plagten
Gewissensbisse, dass sie seinetwegen ihr so angenehmes Lager aufgaben. Er hatte
um lediglich zwei Begleiter nachgesucht, aber Thumimburee schien der Meinung zu
sein, der gesamte Clan müsse mitkommen.
Der
Stammesführer streckte die Arme aus und stimmte, während er langsam einen Kreis
beschrieb, Gebete an. Damit, so erklärte Jallara, danke er den Geistern des
Billabong für die schöne Zeit, die sie hier verbracht hätten. Darüber hinaus
bitte er die Geister der Tiere wie die der Pflanzen um Vergebung für alles, was
sie erlegt und gesammelt und verzehrt hätten. Es schien etwas mit Ausgleich zu
tun zu haben, was Neal allerdings nicht ganz nachvollziehen konnte.
Als
Thumimburee und sein Clan aufbrachen und sich nach Norden wandten, erhob Neal
Einspruch. »Moment mal, ich sagte doch nach Süden.«
»Komm,
Thulan!«, rief Jallara fröhlich. »Thumimburee sagen, du Freund, du mitkommen.«
Neal
starrte sie an. Und dann begriff er, dass er alles falsch verstanden hatte.
Jallara hatte nicht gesagt, dass sie ihn begleiten würden, wo immer er hinwollte,
sondern dass Thumimburee sich freuen würde, wenn er sich ihnen anschließen
würde.
»Ich muss aber nach Süden!«, sagte er, während die anderen unbeirrt Thumimburee
folgten, der mit Speeren, Woomeras und Bumerangs beladenen war. »Ich muss meine Expedition finden!«
Jallara
blieb stehen und wandte sich zu ihm um. »Wir gehen diesen Weg.«
»Warum
denn? Ich meine, für euch macht es doch keinen Unterschied, wohin ihr zieht.
Ihr habt doch nicht vor, einer bestimmten Stadt oder einem Dorf oder
irgendjemanden einen Besuch abzustatten. Mir scheint, dass dein Volk hingehen
kann, wohin es will.«
»Wir
folgen Traumzeitpfaden, Thulan.«
Er
stutzte. Was waren Traumzeitpfade? Auf dem Boden war kein Pfad markiert, kein
Orientierungspunkt angedeutet.
Er sah,
wie Thumimburee hoch aufgerichtet und stolz mit festem Schritt über die
ausgedörrte Ebene stapfte, begleitet von Kindern und Dingos und gefolgt von den
Jägern und Frauen. Dann schaute er nach Süden, in eine Weite, die unendliche
Trostlosigkeit ausstrahlte. Würde er es ganz allein bis zur Küste schaffen?
Nein, das war unmöglich. Neal blieb nichts anderes übrig, als mit dem Clan zu
ziehen. Er passte sich Jallaras Schritt an. Die Vorstellung, anstatt zur Küste
immer tiefer in das unbekannte
Weitere Kostenlose Bücher