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Wood, Barbara

Wood, Barbara

Titel: Wood, Barbara Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieses goldene Land
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niederer Herkunft bin,
sondern einer Schicht angehöre, die man in Amerika als Aristokraten
bezeichnet.«
    »Mr.
Scott«, sagte Hannah, »dies hier ist kein Parfümfläschchen.«
    »Nein?
Woher wollen Sie das wissen?«
    »Weil für
mich kein Zweifel daran besteht, dass dies ein Tränenfläschchen ist.«
    »Ein was?«
Er wölbte die Brauen.
    Das Schiff
rollte. Hannah stützte sich an der Wand ab. »Ein Fläschchen, in dem man die
Tränen auffängt, die man bei bestimmten Anlässen vergossen hat. Tränen der
Trauer oder der Freude.«
    »Davon
habe ich noch nie gehört.«
    »In den
Psalmen ist davon die Rede. Als David zu Gott betet, sagt er: >Fang meine
Tränen in einem Gefäß auf.< Ein alter Brauch, seit Hunderten von Jahren.
Trauernde sammeln ihre Tränen und schenken sie dem, der einen Verlust zu
beklagen hat. Ebenso gut kann man auch seine Freudentränen verschenken.«
    Sie gab
ihm das Fläschchen zurück. »In England ist dieser Brauch sehr beliebt. Die, die
trauern, sammeln ihre Tränen in einem Fläschchen, das sie mit einem Verschluss
versehen, der porös genug ist, um die Tränen nach und nach verdunsten zu
lassen. Sind sie verdunstet, ist die Trauerzeit zu Ende. Dieses Fläschchen
hingegen, ist, wie Sie sehen, so abgedichtet, dass die Tränen nicht verdunsten
können. Ihre Mutter hat gewollt, dass Sie ihre Tränen Ihr Leben lang bewahren
können.«
    Verständnislos
sah er sie an. »Wollen Sie damit sagen, da drin sind Tränen von meiner Mutter?« Er starrte auf das smaragdgrün
schimmernde Glas.
    »Mr.
Scott, Ihre Mutter wollte Ihnen damit zu verstehen geben, dass sie geweint hat,
als sie Sie vor Josiah Scotts Haustür ablegte.«
    Neal
schaute Hannah an und dann wieder auf das Fläschchen in seiner Hand. Mit einem
Mal meinte er, keine Luft mehr zu bekommen. »Halten Sie das wirklich für
möglich?«
    »Ich bin
mir dessen ganz sicher.« Sie lächelte.
    »Ich ...
wer ahnt denn so was? Großer Gott«, stieß er aus. Und erneut wurde er von
Gefühlen übermannt, die er nicht benennen konnte und die ihn seit dem Tag, da
er Donny Ritchie fotografiert
hatte, nicht mehr losließen. Mrs. Ritchies
flehentliche Bitte, Gott möge sie und nicht
Donny zu sich holen, hatte Neal tief im Inneren berührt, hatte ihn derart
überwältigt, dass er schier Angst vor diesen befremdenden Empfindungen hatte.
Seine eigene Mutter hatte ihn im Stich gelassen. Sie hatte Gott nicht gebeten,
lieber sie zu sich zu nehmen. Sie war egoistisch, eine Frau, die im Gegensatz
zu Agnes Ritchie ihr Kind
nicht liebte, sondern sich einfach seiner entledigt hatte. Und genau dies hatte
ihn bewogen, das Porträt eines kranken Kindes abzulichten. Nicht um eine
hysterische Frau zu besänftigen oder eine Meuterei zu unterbinden, sondern um
etwas in seinem Inneren zu beschwichtigen, um sich zu vergewissern, dass nicht
alle Mütter so eigennützig waren wie seine eigene.
    Jetzt aber
... war das Parfümfläschchen nicht länger die teure Spielerei einer eitlen
Egoistin, sondern ein Gefäß für ihre Tränen.
    Im selben
Augenblick bäumte sich das Schiff auf, und Hannah prallte gegen Neal. »Ich muss Sie sichern«, sagte er und schob sich das Tränenfläschchen samt
Goldkettchen in die Tasche. »Und dieses Licht sollte auch gelöscht werden.« Er
zog die Laterne nach unten und blies die Flamme aus. Sofort hüllte Dunkelheit
die beiden ein.
    Auch wenn
sich der Seegang kurzfristig beruhigte, war damit zu rechnen, dass sich über
ihnen die Naturgewalten zusammenbrauten. »Wir müssen in Ihre Kabine«, sagte
Neal mit belegter Stimme, ohne Hannah loszulassen, ohne sie loslassen zu
wollen, unfähig, sich zu rühren. Was zum Kuckuck war soeben geschehen, in
diesen letzten Minuten, in dieser engen Kabine? Wie kam es, dass diese junge
Frau mit den graublauen Augen und dem mitfühlenden Lächeln den Schleier von
seinen Augen entfernt hatte, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass er da
gewesen war?
    Seine
Mutter hatte ihm ihre Tränen hinterlassen.
    Dieser
Gedanke bewegte ihn ebenso heftig, wie das Schaukeln der Caprica ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte. Er schloss
Hannah noch fester in die Arme, presste in der völlig dunklen Kabine sein Mund
auf ihr Haar.
    Hannah
spürte das Unwetter, das sich jeden Moment mit seiner ganzen Wucht über ihnen
zu entladen drohte, aber sie konnte sich einfach nicht von Neal lösen. An ihn
geschmiegt, spürte sie durch sein Hemd seinen warmen Körper, die ausgeprägten
Muskeln, spürte ohne ihren Reifrock seine Beine an

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