Wood, Barbara
würde, als bis er die Wahrheit
über seine Mutter und die Hintergründe seiner Geburt in Erfahrung gebracht
hatte.
Sie wollte
ihm etwas schenken, etwas Persönliches von sich, zur Erinnerung an ihre
gemeinsame Zeit an Bord der Caprica und als
Zeichen ihrer Zuneigung. Aber sie war sich nicht sicher, ob Derartiges
zwischen einer unverheirateten jungen Dame und einem Gentleman angebracht war.
Aber galten für Freundschaften, die man auf hoher See schloss, nicht andere
Regeln?
Obwohl
Neal die Stimme versagte, konnte er sich nicht von Hannah losreißen. Wie sie da
in der strahlenden Sonne vor ihm stand, verschlang er sie förmlich mit seinen
Blicken, wie um sie im Geiste als Fotografie in seiner Erinnerung festzuhalten:
die aufrechte, gertenschlanke Gestalt, das perlgraue Kleid, das die Farbe ihrer
Augen betonte, der leicht geneigte Kopf, das dunkle, zu einem Knoten gefasste
dunkle Haar, das kleine Hütchen mit dem anmutigen Schleier, der ihre Stirn
bedeckte.
Während er
sie wie gebannt anstarrte und nichts von dem geschäftigen Treiben um sich
herum wahrnahm, durchfuhr ihn eine Erkenntnis. Ganz abgesehen von der Nacht, da
sie um ihr Leben gebangt hatten, und abgesehen von diesem einen Kuss, verband
ihn mit Hannah etwas Besonderes: Beide entsprachen nicht so ganz den
herkömmlichen Vorstellungen der Gesellschaft, in der sie sich bewegten. Neal,
weil er ein Findelkind war, eine Tatsache, die er verschweigen musste, weil man
sonst nichts mit ihm zu tun haben wollte; Hannah, weil sie medizinische Bücher
las, bohrende Fragen stellte und sich aus freien Stücken in Situationen begab,
die sich für eine Dame nicht schickten.
Eine recht
unkonventionelle junge Dame, in der Tat. Und eine, bei der er ungeachtet seines
Schwurs, nie wieder sein Herz an eine Frau zu verlieren, drauf und dran war,
genau das zu tun: sich in sie zu verlieben.
»Miss
Conroy«, sagte er schließlich, »wenn Sie es nicht für zu aufdringlich halten,
würde ich Ihnen gern etwas zur Erinnerung schenken.« Damit griff er in sein
Tweedjackett und zog ein zusammengefaltetes, frisch gewaschenes Taschentuch
heraus, das an einer Ecke mit den Initialen N. S. bestickt war.
»Danke,
Mr. Scott«, sagte sie, und nachdem sie es in ihrer Tasche verstaut hatte, zog
sie einen ihrer grau eingefärbten Handschuhe aus und hielt ihn ihm hin. »Und
ich würde mich freuen, wenn Sie dafür das hier annähmen.«
Er griff
nach dem Handschuh aus Chevreauleder und hatte das Gefühl, als hätte sie ihre
Hand in seine geschoben. Wie könnte er sie je wieder loslassen?
Es drängte
ihn, Hannah in die Arme zu schließen und seine Lippen auf ihre zu drücken,
hier, vor aller Augen, vor der Schiffsbesatzung, den Auswanderern auf der Caprica, den Möwen, die über ihnen kreisten. »Auch wenn wir
jetzt Abschied nehmen, liebe Hannah«, sagte er leise, »wird es nicht für lange
sein. In einem Jahr, wenn mein Vertrag ausläuft, werde ich nach Adelaide
kommen, und dort treffen wir uns dann wieder.«
Sie sahen
einander in die Augen. Über ihnen strahlte die Oktobersonne, um sie herum im
Hafen von Perth herrschte geschäftiges Treiben.
»Dann also
bis in einem Jahr«, flüsterte Hannah und dachte daran, was ihr Vater kurz vor
seinem Tod gesagt hatte: dass sie - zusammen mit Neal Scott - an der Schwelle
zu einer herrlichen neuen Welt stand.
ADELAIDE
Februar
1847
6
»Sie sind
noch sehr jung, Miss Conroy«, merkte Dr. Davenport an,
während er Hannahs Diplom und
die Empfehlungsschreiben des Londoner Krankenhauses studierte.
»Ich bin
vor kurzem zwanzig geworden«, gab sie zurück. Wenn sie nur einen Fächer hätte!
Es war stickig in der Praxis des Doktors, auch das geöffnete Fenster brachte
keine Erleichterung. Statt einer kühlen Brise drang nur noch heißere Luft ein,
dazu Staub, Fliegen und der Geruch von Pferdekot. Aber wie alle anderen der vornehmlich
britischen Bewohnerinnen Adelaides hätte Hannah um nichts auf der Welt auf ihr
eng geschnürtes Mieder und den Reifrock verzichtet. Mr. Simms, der
Kabinensteward auf der Caprica, hatte zu
Recht den Februar in Australien als besonders heiß bezeichnet.
Wie mochte
es Neal Scott im Westen des Kontinents ergehen, wo die Sonne dem Vernehmen nach
noch glühender als hier im Süden brannte? Vier Monate war es her, seit sie sich
in Perth Lebewohl gesagt hatten, und seither dachte Hannah täglich an ihn. Sie
hoffte inständig, dass es ihm gutging und er wie versprochen in acht Monaten
nach Adelaide kommen würde.
»Und
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