Wood, Barbara
Abscheu. Weshalb
sie zur Abwehr und wie um sich zu verstecken mit der Hand die von Narben
gezeichnete Seite abschirmte und wie spielerisch am Rand ihrer Haube
herumnestelte. Unseligerweise lenkte sie damit nur noch mehr Aufmerksamkeit auf
die entstellte Seite.
»Meine
Mutter war Schauspielerin und verkörperte Shakespeare-Rollen«, sagte Hannah,
als sie ihre blaue Teppichtasche öffnete und den Gedichtband der Mutter
herausholte, in dem sie einen zusammengefalteten Spielplan aufbewahrte. Sie
faltete ihn auseinander und hielt ihn Alice zum Lesen hin.
Letztmalig
in dieser Saison
Ein Wintermärchen
von William Shakespeare
Gleichzeitig
Abschiedsvorstellung
von Miss
Luisa Reed Theatre Royal,
Shakespeare Square,
Edinburgh
29. Juli 1824
»Dies war
der letzte Auftritt meiner Mutter«, sagte Hannah. »Zwei Monate zuvor, während
einer Tournee durch das südliche England, hatte sie meinen Vater kennengelernt.
Sie hatte sich den Knöchel verstaucht und sich bei ihm in Behandlung begeben.
Sie haben sich spontan ineinander verliebt. Nach dieser Aufführung trat meine
Mutter von der Bühne ab und kehrte zu John Conroy nach Bayfield zurück.«
Kindheitserinnerungen
stiegen in ihr hoch. Sie war damals nicht älter als sechs oder sieben gewesen,
und ihre Mutter führte ihr eine höchst ausgefallene Tasche vor, die sie ihren
»Werkzeugkasten« nannte und in dem sich jede Menge Schachteln, Fläschchen und
Dosen befanden. Bühnenschminke aus ihren Tagen als Schauspielerin. Hannah
gingen die Augen über beim Anblick der vielen Fettstifte, der Klebstofftuben
und Puderdosen, mit denen man dem Schauspieler ein völlig anderes Gesicht
zaubern konnte. »Damit kann ich zu einer chinesischen Prinzessin werden«,
hatte Louisa gelacht, »oder zu einer
afrikanischen Negerin oder zu einer altjüngferlichen Tante in Lincolnshire. Ich kann mich hässlich machen oder hübsch, jung oder alt. Alles, was
ich sein möchte!«
Die
Erinnerung an jenen längst vergangenen Nachmittag bestätigte Hannah, dass man
sich mit Theaterschminke künstlich verunstalten, aber auch Schönheitsfehler
überdecken kann.
»Da siehst
du's. Meine Mutter benutzte Schminke und war dennoch hoch geachtet. Alice, hast
du schon mal eine Theateraufführung miterlebt? Nein? Dann besuchen wir eine,
sobald wir uns das leisten können.«
»Danke,
Miss«, erwiderte Alice und dachte dabei an dieses »Sobald wir uns das leisten
können«. Sie waren bereits mit der Miete für das Hotel im Rückstand, und bald
würden sie kein Geld mehr fürs Essen haben. Drängend stellte sich die Frage,
wann sie endlich eine bezahlte Tätigkeit fanden. Alice hatte man bislang eine
Abfuhr nach der anderen erteilt, und Hannah hatte zwar die Stelleninserate in
den Zeitungen durchgesehen, dann aber von Bewerbungen Abstand genommen. Über
den Grund hatte sie sich ausgeschwiegen, aber Alice ahnte, dass Hannah einen
neuen Arbeitgeber nicht in die gleiche missliche Situation bringen wollte wie
Dr. Davenport. Denn ganz gleich, bei wem Hannah unterkam - er würde
höchstwahrscheinlich ebenfalls zur Zielscheibe von Lulu Forchettes vergifteter
Feder werden. Adelaide und damit Lulus Einflussbereich den Rücken zu kehren,
stand nicht zur Debatte. Alice wusste, dass Hannah mit diesem Amerikaner Neal
Scott vereinbart hatte, sich hier im Oktober zu treffen - zumindest hoffte sie
das.
Nach den
beängstigenden Zeitungsberichten über Aufstände der Aborigines im Westen Australiens hatte Hannah an die Behörden in Perth
geschrieben und Auskunft über das Schicksal der HMS Borealis erbeten. Auch an die Missionseinrichtung der Aborigines hatte sie geschrieben und sich nach einem Missionarsehepaar
erkundigt, das sie auf ihrer Überfahrt aus England kennengelernt hätte.
Alice
hatte alles über die aufregende Reise an Bord der Caprica erfahren und auch die Fotografie von Neal Scott gesehen.
Unverschämt gut sah er aus, und so wie Hannah über ihn sprach, schien er auch
klug und gebildet, abenteuerlustig und mutig zu sein und ein Gentleman
obendrein. Verständlich, dass Alice, die nicht darauf hoffen konnte, jemals
eine solche Liebesgeschichte zu erleben, Hannah darum beneidete. Früher einmal,
bevor das Feuer sie ihrer Familie und ihres Zuhauses beraubt hatte, ja, da
hatte sie davon geträumt, dereinst Ehefrau und Mutter zu sein. Aber dieser
Traum war dahin.
Jetzt
legte sie die Schürze ab, auf der sie weiterhin bestand, und strich sich über
die Manschetten und Knöpfe ihres rostbraunen Kleids, das nicht
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