Wood, Barbara
nur wegen der
engen Ärmel, sondern auch wegen des fehlenden Reifrocks reichlich unmodern
wirkte. Sie befestigte die schlichte Strohkappe und betrachtete ihr Gesicht
eingehend im Spiegel - die eine Hälfte durchaus hübsch, die andere narbenzerfurcht.
In Widerspiegelung sah sie Hannah am Schreibtisch sitzen, den Kopf über Feder
und Briefpapier gebeugt. Durch das offene Fenster kam das melodische
Glockengeläut der zahllosen Kirchtürme von Adelaide. »Wieso gehen Sie
eigentlich nicht in die Kirche, Miss?«
Hannah
schaute auf. »Wie bitte?«
»Sie
sagten, Ihr Vater war Quäker. Gehen die nicht in die Kirche?«
Hannah
schaute Alice an, las in ihren außergewöhnlich blauen Augen nichts als arglose
Neugier. »Durch die Eheschließung mit einer Schauspielerin wurde mein Vater aus
der Gesellschaft der Freunde verstoßen. Aber er hielt den Sabbat auf seine Weise
ein.«
Kurzes
Schweigen, dann sagte Alice: »Beten Sie dann, Miss?«
Hannah
wusste nicht recht, wie sie darauf antworten sollte. Beten war ihr nie
leichtgefallen. Sie sah wieder den Vater vor sich, wie er im Salon ihres
kleinen Hauses stand und seinen Tag in stiller Sammlung begann, sah, wie er
noch vor dem ersten rosa Schimmer der aufgehenden Sonne, seine Füße fest auf
dem geknüpften Teppich, Seele und Gedanken in Einklang brachte - noch ehe er
wusste, was der Tag an Angenehmem oder Misslichem bringen würde. Hannah hatte
diese Stille und wie der Vater da hoch aufgerichtet und doch in sich gekehrt
dastand, immer irgendwie bewegend gefunden, es kam ihr vor, als bedeutete ihm
dieser Moment alles, als gäbe es keinen weiteren. War das, wenn er betete? Wenn
er im Licht wandelte? Er hatte nie darüber gesprochen. Wenn dann die Sonne
durch die Bäume glänzte und sich ihre goldgelben Strahlen den Weg in den Salon
bahnten, löste sich John Conroy aus der unsichtbaren Umklammerung des
Übernatürlichen und nahm sein Tagwerk auf.
Hannah
hatte versucht, es ihm gleichzutun. Aber alles, was sie zustande brachte, war,
stumm dazustehen. Weiter oder höher oder tiefer kam sie nicht. Mit nackten
Füßen auf dem kalten Boden, hatte sie, noch ehe ihr Bett gemacht war, im
Nachthemd in ihrem Schlafzimmer versucht, es so weit zu bringen wie ihr Vater,
ihre Augen und Ohren wie er auf eine spirituelle Reise zu schicken. Aber
unweigerlich schweiften ihre Gedanken dann in Richtung Küche ab, und tausend
lächerliche Kleinigkeiten drängten sich ihr auf: Da war ein Vorhang, der
ausgebessert werden musste, eine Lampe, die einen neuen Glasstrumpf benötigte,
die Rechnung beim Metzger war zu bezahlen, und würde vielleicht endlich ein
Brief aus dem Londoner Krankenhaus eintreffen?
»Ich
versuche es«, sagte sie und lächelte. »Aber ich glaube, Gott hört uns, ganz
gleich in welcher Form wir uns an ihn wenden.«
»Bevor
unsere Farm abbrannte«, sagte Alice, »schlug mein Vater unsere große Bibel auf
und las uns daraus vor.« Sie hing einen Augenblick lang ihren Erinnerungen
nach, ehe sie weitersprach: »Von der Überfahrt weiß ich nichts mehr. Ich war
vier, als wir England verließen. Meine Eltern setzten so große Hoffnungen in
die neue Heimat.« Ihre Stimme wurde brüchig.
»Alice,
möchtest du in die Kirche gehen?«, fragte Hannah leise.
Alice
schüttelte den Kopf. »Ich bin mehr für einen Spaziergang.«
»Warum
gehst du nicht zum Pferderennen in Chester Downs? Soviel ich
weiß, verkehren stündlich Busse vom Victoria Square aus dorthin.«
»Vielleicht.«
Damit zog Alice ab.
Ein
Pferderennen zu besuchen hatte sie jedoch nicht vor, als sie einer der
Durchgangsstraßen folgte, die aus der Stadt führten, und sich unter die Schar
der Fußgänger mischte, die zu einem Bummel aufgebrochen waren. Offene Kutschen
passierten in beiden Richtungen, man nutzte wie immer den Sonntag zu einem
Ausflug.
Alice
hatte einen langen Marsch vor sich, aber die Verletzungen, die Lulu ihr
beigebracht hatte, waren so gut wie verheilt, nichts tat mehr weh. Sie fühlte
sich stark, als sie der Landstraße folgte, vorbei an Häusern und Gärten und
Schafpferchen, bis die Stadt weit hinter ihr lag und die Farmen so groß wurden,
dass die dazugehörigen Häuser meilenweit auseinander lagen. Sie zog durch
gesprenkeltes Sonnenlicht, winkte gelegentlich vorbeifahrenden Kutschen oder
Reitern zu, kämpfte ihre Ängste nieder. Wenn Zweifel sie beschlichen und sie
überlegte, ob das, was sie vorhatte, ein Fehler sei oder ob Lulu, wenn sie ihr
eine Falle stellte, sie wieder wie eine Gefangene halten würde,
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