Wood, Barbara
wiederholte
sich Alice Begriffe, um deren Bedeutung sie mittlerweile wusste: Anstand,
Gleichheit, Gerechtigkeit. Sie bestärkten sie in ihrem Entschluss.
Es waren
Begriffe, Wertvorstellungen, die Alice bislang fremd gewesen waren. Die
Erinnerungen an die elterliche Farm waren nur noch undeutlich, waren
größtenteils mit den Flammen verbrannt. Anzunehmen, dass sie damals ein ganz
normales Leben geführt hatte, möglicherweise sogar ein glückliches. Danach hatte
sie es nur noch mit der Jugendwohlfahrt zu tun bekommen, wo man zunächst
versucht hatte, sie in irgendwelchen Familien unterzubringen, die sie wiederum
nach kürzester Zeit zurückgeschickt hatten. Dann war sie an ruppige
Arbeitgeber geraten, die nicht verstehen wollten, warum sie eine panische Angst
vor Feuer hatte. Schließlich war sie auf der Straße gelandet, hatte in Gassen
und Einfahrten genächtigt und um zu überleben an Hintertüren gebettelt.
Schließlich hatte Lulu sie aufgelesen.
Und dann
war Hannah Conroy in ihr Leben getreten, und alles war anders geworden. Zum
ersten Mal hatte Alice Freundlichkeit und Zuneigung erfahren, sogar ein
bisschen Hoffnung war in ihr geweckt worden. Dies alles bestärkte sie auf ihrem
Weg die Kapunda Road entlang,
auf der kaum noch Verkehr herrschte.
Als sie
sich dem Haus näherte, fiel ihr auf, wie ruhig es morgens war. Keine Kutschen,
keine Pferde. So einflussreich einige von Lulus Freunden auch sein mochten,
hütete sich die Bordellbesitzerin doch, ihr Haus auch am Sonntag zu öffnen.
Selbst der Korruption waren Grenzen gesetzt. Somit genossen die Mädchen einen
freien Tag, konnten Näharbeiten verrichten und sogar - unter dem wachsamen Auge
von Walt Gilhooley - in die Stadt fahren. An diesem heutigen Sonntag zog es die
Mädchen wie auch die Hausangestellten zum Pferderennen (allerdings unauffällig
in Kleidung und Auftreten), so dass das Haus wie ausgestorben sein würde. Nur
Lulu hielt, wie Alice wusste, bestimmt die Stellung, schnarchte in ihrem Salon
entweder vor sich hin oder zählte ihr Geld, während sie Süßigkeiten in sich
hineinstopfte.
Alice
blieb an der Hintertür stehen, atmete tief durch, straffte die Schultern. Sie
wusste, dass mit den Briefen an Dr. Davenport und Mrs.
Throckmorton Lulus Rachefeldzug keineswegs beendet war, sondern dass
sie so weitermachen würde, bis sie Hannah Conroy endgültig zur Strecke
gebracht hätte. Hannah hatte anfangs vorgehabt, Lulu wegen dieser Briefe zur
Rede zu stellen, aber davon hatte Alice sie abgebracht - weil das
höchstwahrscheinlich alles noch schlimmer machen würde. »Irgendwann wird Lulu
damit aufhören, Miss«, hatte sie gesagt. »Denken Sie einfach nicht mehr dran.«
Und Hannah hatte ihren Rat beherzigt.
Niemand
wusste, woher Lulu stammte, wer ihre Angehörigen waren. Ob Lulu Forchette
überhaupt ihr richtiger Name war, war ebenfalls zweifelhaft. Wenn es stimmte,
dass die tödlichsten Schlangen in Australien zu finden waren, hätte Alice Stein
und Bein geschworen, dass keine es mit der eiskalten und skrupellosen Lulu
aufnehmen konnte. Die Vorstellung, in diesem fleischigen Busen könnte ein
menschliches Herz schlagen, war schlechterdings unmöglich. Lulus Mädchen war
es untersagt, schwanger zu werden. Wenn Lulus Tee aus Frauenminze nicht half,
hatte man Dr. Young mit seinen
scharfen Instrumenten gerufen. Einige der Mädchen waren an den Folgen eines
solchen Eingriffs gestorben. Lulu hatte es nicht geschert. Auf den Straßen
trieb sich jede Menge Ersatz herum, und täglich kam weiterer Nachschub aus
England.
Alice
klopfte gar nicht erst an. Sie fand Lulu in ihren Sessel gestreckt vor, das
hennarote Haar lag auf den feisten Schultern, und der Saum ihres
spitzenbesetzten seidenen Morgenrocks schleifte auf dem erlesenen türkischen
Teppich. Ihr Kopf war zurückgelehnt, aus dem rot bemalten Mund drang leises
Schnarchen. Auf einem kleinen Tisch neben dem Sessel befanden sich Überbleibsel
von dem, was Lulu für gewöhnlich zum Frühstück verspeiste: gebratene Eier und
Kartoffeln, Rindersteak und Wurst, gebutterter Toast und heiße Schokolade.
Alice
räusperte sich, und sofort riss Lulu die Augen auf, die sich zu Schlitzen verengten,
als sie sah, wer da vor ihr stand. »Kommst wieder angekrochen, wie?«
»Ich bin
gekommen, um Sie zu bitten, Miss Conroy in Ruhe zu lassen.«
»Den
Teufel werd ich tun«, schnarrte Lulu. »Hat sie dich deswegen hergeschickt?«
»Sie hat
Ihnen nichts getan ...«
»Nichts
getan! Diese eingebildete Pute hat meine Mädchen
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