Word-OleSte-DerTou
mit neunzehn ein Maschinenbaustipendium für die University of Texas erhalten hatte. Als er von Guadalajara nach Austin zog, begann er sofort, seine Zukunft zu planen, und schloss Kontakte zu den Personalwerbern der Ölfirmen, die zweimal im Jahr vorbeischauten. Bei seinem Abschluss hatte er bereits eine Position bei ExxonMobil in Alaska in der Tasche und nahm seine frisch angetraute Frau Hanna mit, die ihr Komparatistikstudium aufgab, um ihm in den hohen Norden zu folgen. Tina wurde in Norne geboren, doch als sie sechs war, zogen sie zurück nach Irving, einen Vorort von Dallas, wo die Hauptverwaltung des Unternehmens lag. Als Miguel 2000, zu einer Zeit des allgemeinen Hasses gegen Ölkonzerne, in den Vorruhestand ging, war er der einzige mexikanische Staatsangehörige, der je in der Chefetage des Unternehmens gesessen hatte.
Nach seiner Pensionierung kaufte er in Austin ein angeschlagenes Fahrradgeschäft auf. Er erweiterte den Laden, verpasste ihm einen neuen Namen und platzierte Anzeigen im Chronicle, was ihm von kritischen Einwohnern die Bezeichnung »Fahrrad-Wal-Mart« eintrug. Manchmal fragte sich Tina, wie viele Läden der Stadt er mit seiner aggressiven Expansion vom Markt gedrängt hatte.
»Mein Gott, Tina. Ich dachte, du bist froh, wenn ich was für die Umwelt tue.«
Trotz seines Geschäftsgebarens liebte Tina ihren Vater über alles. Mit seinen schon fast sechzig Jahren wirkte der breitschultrige, dunkelhäutige Mann bisweilen wie ein mexikanischer Ringer. Doch wenn er mit Stephanie zusammen war, fiel alle unternehmerische Kompromisslosigkeit von ihm ab, und er wollte nur noch zusammen mit ihr auf dem Boden hocken und sich über alles unterhalten, wonach ihr gerade der Sinn stand.
Heute Morgen hatte er Stephanie mitgenommen, um ihr den Laden vorzuführen, doch als sie um zwei zurückkamen, hatten sie darüber hinaus einen Besuch im Erlebnisrestaurant Chuck E. Cheese hinter sich und hatten sich zum Nachtisch Baskin-Robbins-Eis gegönnt, das einen dunklen Fleck auf Stephanies hellgrüner Latzhose hinterlassen hatte. Hanna streifte ihr das Ding ab und machte sich über den Fleck her, während Stephanie nach Ersatzkleidung wühlte. Auch Miguel verschwand mit der Tagespost in sein Büro. Kurz darauf kehrte er mit einem Umschlag in der Tasche zurück ins Wohnzimmer. Zerstreut schaltete er den Breitbildfernseher ein. CNN meldete soeben die Aktienkurse.
»War sie brav, Dad?«
»Die Kleine wickelt alle um den Finger. Könnte ich gut für meine Geschäftsverhandlungen gebrauchen.«
»Du hast sie aber nicht mit zu vielen Leckereien verwöhnt, hoffe ich.«
Ihr Vater zog es vor, diese Bemerkung zu ignorieren, und nahm auf dem Sofa Platz. Mit einem unruhigen Blick zur Tür grub er den gepolsterten Umschlag aus der Tasche und warf ihn auf den freien Platz zwischen ihnen. »Schau dir das mal an.«
Hastig überflog sie die hingekritzelte Adresse ihrer Eltern.
Diese Handschrift kannte sie. Kein Absender. In dem Kuvert befanden sich zwei neue Pässe und ein Zettel aus einem Spiralblock mit einer Botschaft an ihre Eltern: Sie sollten die Pässe für T und S aufbewahren. Tina und Stephanie.
»0 Gott.« Sie betrachtete ihr eigenes Foto neben dem Namen Laura Dolan. In dem zweiten Pass war ein Bild von Stephanie, die jetzt Kelley hieß.
Als ihre Mutter hereinkam, stopfte sie die Pässe zurück in den Umschlag, als handelte es sich um ein Geheimnis zwischen ihr und ihrem Vater, was vielleicht sogar stimmte, doch ihre Mutter wollte sowieso nur ins Bad, um nochmal Waschmittel zu holen.
»Was meinst du dazu?«, fragte Miguel, als seine Frau wieder verschwunden war.
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« »Ein Fluchtplan vielleicht?«
»Vielleicht.«
Erneut rauschte Hanna durchs Zimmer. »Hoffentlich hat sie sich nicht den Magen verdorben, Mig.«
Miguel schaltete zu den Finanznachrichten auf MSNBC um. »Wir haben nur Eis gegessen, Schatz. Bei Chuck E. Cheese haben wir bloß ein paar Spiele gespielt.«
Mit einem zweifelnden »Hmm« verschwand sie.
Er seufzte. »Keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat, Tina, aber wenn er dich und meine Enkelin in irgendein anderes Land verschleppen will, dann kriegt er was aufs Dach von mir. Das lass ich nicht zu.«
»Das würde er nie tun.«
»Wozu dann die Pässe, Tina?« Als sie nicht antwortete, fing er an zu zappen. »Ordentlich was aufs Dach.«
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Aufgrund ihrer historisch gewachsenen Eigenständigkeit hatte sich die Schweiz nie der Europäischen Union
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