Working Mum
Manteltasche hole ich ein vom Gebrauch verkrustetes Taschentuch hervor; Julie bietet mir eins im gleichen Zustand an, nur dass es blutbefleckt ist.
«Emilys Krippenspiel.»
«Stevens Rugbymatch.»
Wir drehen uns um und blicken über die Stadt. Über ihrer Hässlichkeit entfaltet sich ein wahnwitziger Vivienne-Westwood-Sonnenuntergang, ganz in Rüschenhosenrosa und skandalösen Lilatönen. Die Skyline wird von riesigen Schornsteinen beherrscht, nur einige von ihnen sind noch aktiv, sie paffen kleine Rauchwölkchen aus wie gehetzte Raucher. «Ich hoffe, du hast Dad nichts gegeben», sagt Julie, und als ich nicht antworte: «Oh, verdammte Scheiße, Kath, du bist so ein Weichei.»
«City-Schneekönigin», sage ich in meiner Radio 4-Stimme.
«Eine Schneekönigin, die ziemlich schnell schmilzt», sagt meine Schwester bissig. «Du musst endlich über Dad hinwegkommen, weißt du. Er ist es nicht wert. Es gibt Millionen von Scheißvätern da draußen, wir sind keine Ausnahme. Denk doch bloß mal daran zurück, wie er dich an die Tür geschickt hat, wenn sie vorbeikamen und die Miete kassieren wollten. Du erinnerst dich doch daran, nicht?»
«Nein.»
«Du erinnerst dich. Ich weiß es. So was macht man nicht mit einem Kind, Kathy. Man lässt Kinder nicht für sich lügen. Und er hat Mum verdroschen, wenn es nicht so lief, wie er wollte.»
«Nein.»
«Nein? Wer ist denn runtergegangen, um ihn abzulenken, wenn sie aufeinander einschlugen? Ein kleines Mädchen namens Katharine. Klingelt’s bei dir?»
«Jules, wie hieß nochmal dieses Eis am Stiel mit Hundertern und Tausendern drauf?»
«Verdammt nochmal, wechsele nicht das Thema.»
«Weißt du’s noch?»
«Natürlich. Fabs. Aber die hast du nie gegessen. Du hast immer dein Taschengeld gespart und das Cornetto gekauft. Mum hat gesagt, du hättest immer das Beste haben müssen, seit du stehen konntest. ‹Champagnergelüste mit Bierbudget, so ist sie, unsere Kath.› Und dann bist du losgegangen und hast das Geld für den Champagner verdient, stimmt’s?»
«So toll ist das auch nicht», sage ich und mustere meinen Ehering.
«Champagner?» Julie guckt mich an, als würde sie es wirklich wissen wollen.
Wie kann ich meiner Schwester sagen, dass Geld mein Leben verbessert hat, es aber nicht tiefer oder leichter gemacht hat. «Ach, das meiste Geld geht dafür drauf, Zeit zu kaufen, in der man Geld verdienen kann, um all die Dinge zu bezahlen, die man zu brauchen glaubt, weil man Geld hat.»
«Ja, aber es ist besser als das hier.» Julie zeigt über den Park und auf die kindlichen Mütter. In ihrer Stimme liegt Wut, aber als sie ihren Satz noch einmal wiederholt, klingt er, als gäbe sie mir ihren Segen: «Es muss besser sein als das hier, Schwesterchen.»
FRÜHER FUHR IMMER ein Mr.-Whippy-Wagen durch unsere Siedlung, der eine hektische Version von Greensleeves spielte. Eines Tages in den Sommerferien kauften Annette und Colin Jones sich ein Eis am Wagen, als ihr Kätzchen hinauslief und unters Hinterrad geriet. Wir schrien auf, aber der Wagen fuhr an. Ich weiß noch, dass es kochend heiß war, der Teer löste sich von der Straße und blieb an unseren Sandalen hängen. Ich erinnere mich, wie Annette geschrien hat, und ich erinnere mich an die Musik und wie ich wahrnahm, dass etwas unendlich Zartes kaputtging, als das Rad sich drehte.
Die Familie Jones wohnte zwei Türen weiter. Carol Jones war die einzige Mutter, die wir kannten, die arbeiten ging. Sie hatte damit angefangen, für ein Taschengeld in einer Kneipe zu jobben, und bald danach nahm sie einen Ganztagsjob im Lohnbüro einer Metallfabrik an.
Wenn ihre Nachbarn sie bei einer morgendlichen Tasse Kaffee sezierten, kamen meine Mutter und Mrs. Frieda Davies zu dem Schluss, dass Carol ihr Gehalt für den Frisör und andere Dinge ausgab, die unter die Kategorie «Vergnügen» fielen. Sie hätten nicht erfreuter sein können, als Annette beim Hauptschulabschluss durchfiel. Na, was konnte man denn schon erwarten, wenn keiner zu Hause war, der dem armen Kind ein warmes Abendessen kochte?
Ich erinnere mich noch, dass Carol Lippenstift trug und viel lachte und jünger wirkte als meine Mutter, obwohl die beiden im gleichen Alter waren.
Am Tag des Unfalls hörte Mum unsere Schreie und holte uns alle rein, während der Eismann versuchte, sauber zu machen. Ich hatte mein Erdbeer-Cornetto auf die Straße fallen lassen. Mum beruhigte Annette, machte Orangensquash für alle und holte Colin ein Pflaster (er hatte
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