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World's End

World's End

Titel: World's End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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über diesen Gedanken. »Elektromäuse«, wiederholte er.
    Das Wasser war kalt wie ein Gletscherbach. Walter schrie nicht auf, ihm stockte nicht der Atem, weder fluchte er noch planschte er herum. Er legte sich auf den Rücken, die Strömung hob seine Genitalien in die Höhe und floß hinter dem Nacken und den Schultern geschmeidig wieder ineinander. Nach einer Weile hob er das rechte Bein aus dem Wasser und legte den Plastikfuß auf einen Stein am Rand des Bachs.
    »Petrolokomotiven«, sagte Tom. »Der Name war auch mit im Rennen damals.« Doch die Leichtigkeit war aus seiner Stimme gewichen. »So sieht es also aus«, sagte er. Und dann: »Wie fühlt sich’s denn an?«
    »Momentan tut es verdammt weh.« Walter verstummte, betrachtete die Kunststoffskulptur am Ende seines Beins. »Der Arzt meinte, ich werde lernen, damit zu leben.«
    Die Sonne kletterte jetzt hinter den Bäumen empor, verdichtete die Schatten und durchflutete das Unterholz mit sattem goldenem Licht, das sich wie Pfannkuchenteig auf die Blätter legte. Walter zählte die Wedel des Farns neben sich, sah den Elritzen zu, die in der Strömung abtauchten und zwischen seinen Beinen spielten, lauschte einem trommelnden Specht und dem Ruf des Laubwürgers. Einen Augenblick lang fühlte er sich als Teil davon, als Kreatur des urzeitlichen Waldes, der weit älter war als Asphalt, gehärteter Stahl und seine Plastikprothese, doch dann holte ihn das Knattern eines Motorrads drüben auf der Van Wart Road wieder zurück. »So«, sagte er und erhob sich aus dem Wasser, in der langsamen, tastenden Art eines Achtzigjährigen. »Okay. Jetzt geht’s mir besser.«
    »Kannst ruhig mein Handtuch nehmen«, bot Tom an. Er saß aufrecht, keuchte und prustete immer noch, auf seinem pickeligen Rücken ringelte sich der lange nasse Schopf seines Haars wie etwas, das sich an ihn geklammert hatte und ertrunken war.
    Walter rubbelte sich mit dem harten, stinkenden Handtuch ab, während rings um ihn Moskitos sirrten und der Schlick durch seine Zehen quoll. Er fühlte sich besser, kein Zweifel. Das Kopfweh hatte nachgelassen, die Blätter und Zweige, die nach ihm fingerten, schienen sich wieder verfestigt zu haben, und der Schmerz in dem tauben Bein war weg. In diesem Augenblick, als er auf dem schlammigen Ufer stand und im frühmorgendlichen Sonnenlicht zitterte, hatte er eine Offenbarung. Auf einmal wurde ihm klar, daß das ganze Alltagsgetue für ihn völlig unwichtig war, daß er keine Lust hatte, banale Konversation zu machen, nicht über Elektromäuse, die Party vom Vorabend, Nervengas oder die Revolution in Lateinamerika diskutieren wollte. Nein: in Wirklichkeit wollte er über seinen Vater reden. Er hätte gern diesem schlotternden, jämmerlichen, knochendürren Häufchen Gänsehaut, das da tropfnaß neben ihm stand, sein Innerstes geöffnet, wollte ihm erzählen, daß er sich etwas vorgemacht habe, daß es ihm jetzt und immerdar verdammt wichtig sei, wo sein Vater war, nichts anderes wollte er – gar nichts, weder Jessica noch das Fleisch und Blut, das ihm weggerissen worden war –, als ihn zu finden, ihm gegenüberzustehen, ihm den blutbefleckten Fetzen der Vergangenheit ins Gesicht zu klatschen und dadurch seine Gegenwart zurückzuerlangen. Er wollte nicht über seine Hochzeit, über Musik, gesunde Ernährung oder Ufos sprechen. Er wollte über die eingemotteten Schiffe und über Ahnenforschung sprechen, über seine Großmutter, über das Gespenst im Duft von Kartoffelpuffern und seine Augenprobleme, die das Gestern im Heute lebendig werden ließen.
    Aber er bekam nicht die Chance dazu.
    Denn der Heilige der Wälder, blau im Gesicht und mit vor Kälte klappernden Zähnen und ratternden Kiefergelenken, rieb sich mit dem schäbigen Handtuch die herabhängenden Schultern und den kahlen Hodensack und sagte plötzlich: »Was hast du eigentlich damals mit Mardi gemacht?«
    Mardi. Sie war ein Schatten, eine fragmentarische Erinnerung, ein Fleck auf seinem Bewußtsein – sie war auch eins von den Gespenstern. »Mit wem?«
    »Du weißt doch: Mardi. Mardi Van Wart.«
    Walter wußte nicht. Wollte es auch nicht wissen. In seinen Ohren hallte ein Kreischen, ein gräßliches, unauslöschliches Getöse, das auf einmal aus dem blutgetränkten Boden vor ihm aufstieg. Er konnte die Schreie der Opfer hören, die sanfte Stimme seiner Mutter angstverzerrt, die geifernden, gierenden Flüche der Männer mit den Stöcken und Brecheisen und Zaunpfählen in den Händen. Jude, Nigger, Roter:

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