Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus
Publikum gegenüber, denn um 1830 hat sich die literarische Szene – Autoren wie Leserschaft – sehr verändert. Puschkin wird, mit seinen Freunden Baron Delwig und Fürst Wjasemskij, als »Aristokrat« abgestempelt und von der Polizei bespitzelt. Indessen willigt die Mutter Gontscharowa in die Heirat ein, nachdem dem Dichter ein Unbedenklichkeitszeugnis ausgestellt worden war. Der Vater tritt ihm einen Teil seines Gutes Boldino (im Gouvernement Nischnij Nowgorod) ab, und Puschkin reist im September 1830 dorthin, um Formalitäten zu regeln. Dort wird er durch Choleraquarantänen den ganzen Herbst über festgehalten – und dies mündet in den schöpferisch ergiebigsten Herbst seines Lebens. Er findet die endgültige Form des »Eugen Onegin«, schreibt etwa 30 lyrische Gedichte, vier kleine Tragödien und die fünf »Erzählungen Belkins« (»Der Schuss«, »Der Schneesturm«, »Der Sargmacher«, »Der Postmeister« und »Das Edelfräulein als Bäuerin«), seine erste veröffentlichte Prosa. Ferner bringt er das witzige Poem »Das Häuschen in Kolomna« und, in Prosa, die ebenso witzige »Geschichte des Dorfes Gorjuchino« zu Papier.
Anfang März 1831 findet in Moskau endlich Puschkins Vermählung mit Natalja Gontscharowa statt. Das junge Paar entflieht bald den »Moskauer Tanten« und lässt sich zunächst in Zarskoje Selo, anschließend in Sankt Petersburg nieder. Im Sommer bietet der Zar Puschkin die Rückkehr in den Staatsdienst an. Als der Dichter einwendet, er könne nicht anders dienen als durch Schreiben, schlägt Nikolaus ihm vor, eine Geschichte Peters des Großen zu verfassen, und öffnet ihm den Zugang zu den Archiven. Während Puschkin sich jetzt mit Schukowskij im Erzählen von Kunstmärchen misst und poetische Apologien der russischen Polenpolitik verfasst, distanziert er sich in seinem Romanentwurf »Roslawlew« ausdrücklich vom modischen Nationalismus. Darüber hinaus konzipiert er einen weiteren Roman, »Dubrowskij«, eine Mischung aus Kohlhaas-Motiv und »edlem Räuber«. Beide Romane bleiben zwar unvollendet, doch die Prosa gewinnt deutlich an Gewicht. In der Lyrik polemisiert Puschkin, so beispielsweise in dem Gedicht »Mein Stammbaum«, das die Vorstufe zu dem Fragment »Jeserskij« (1832) bildet, eine Lobpreisung der dichterischen Freiheit.
Bei seinen Archivstudien stößt Puschkin auf den Donkosaken Pugatschow, der 1773/74 als Pseudo-Peter III. das Wolga- und Uralgebiet von Kasan bis Orenburg terrorisiert hatte. Fasziniert von dieser Gestalt, bereist Puschkin im Sommer 1833 diese Gegenden und trifft im Herbst zum zweiten Mal auf dem Gut Boldino ein. Und abermals entsteht hier in der Abgeschiedenheit eine Reihe von Meisterwerken: das große Gedicht »Der Herbst«, die vollkommenste Selbstdarstellung des Dichters, und das gewaltige Poem »Der eherne Reiter«, das vor dem Hintergrund der Flutkatastrophe von 1824 die Größe und Problematik der Leistung Peters des Großen angesichts eines kleinen Einzelschicksals schildert. Gleichzeitig bringt er eine Kurzfassung von Shakespeares »Maß für Maß« zu Papier, deren Tenor »Gnade vor Recht« beim Zaren keine Zustimmung findet. In Prosa entstehen die fantastische Novelle »Pique Dame« und die nüchterne »Geschichte des Pugatschowschen Aufstandes«. Unterdessen wächst die Familie: Nach der Tochter Maria (1832) wird nun der Sohn Aleksandr geboren.
›Und lange wird vom Volk mir Liebe noch erwiesen, Weil mein Gesang erweckt Gefühle echt und tief, Weil ich in grauser Zeit die Freiheit kühn gepriesen Und Gnade für Gestürzte rief.‹
Aleksandr Puschkin
SORGEN
Man hat 1833 das letzte glückliche Jahr Puschkins genannt. In der Tat beginnt das neue Jahr mit einem Ärgernis: Der Zar ernennt den 35-Jährigen zum Kammerjunker. Ein Amt, das sonst nur an 18-Jährige vergeben wird. Nun kann auch Puschkins Frau zu den Bällen des Hofstaats geladen werden. Doch was sie genießt, erbost ihn. Puschkin sieht sich jetzt in der schwierigen Situation des standesbewussten Adligen, der als Literat verachtet und als Angehöriger des Hofstaats unterbewertet wird. So entstehen 1834 auch nur zwei bedeutende Werke: die von Prosper Mérimées »La Guzla« angeregten »Lieder der westlichen Slawen« (in reimlosen Versen) und das (gereimte) »Märchen vom goldenen Hahn«, eine ebenso eingängige wie rätselhafte Geschichte von der verhängisvollen Macht des Ewigweiblichen.
Im Sommer bittet Puschkin, von Geldsorgen geplagt, um seinen Abschied. Da dies aber den
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