Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus
Schüchternheit machte es ihr schwer, Kontakte zu knüpfen. Außerdem fühlte sie sich als Protestantin fremd im katholischen Brüssel, wobei sie von einem gewissen Dünkel gegenüber der anderen Religion nicht frei war. Umso erstaunlicher mutet ihre Kühnheit an, als sie sich eines Tages zu einem Experiment überwand und vor einem katholischen Priester die Beichte ablegte. Am 2. Januar 1844 war Charlotte wieder in Haworth. Dem verehrten Professor hatte sie das Versprechen abgerungen, ihm alle sechs Monate schreiben zu dürfen. Doch die Antworten wurden mit der Zeit immer kärglicher und blieben zuletzt ganz aus. Dass diese Wunde in Charlotte nie ganz verheilte, spürt man in »Villette«, ihrem letzten Roman, in dem sie ihr kompliziertes Verhältnis zu Heger künstlerisch verarbeitet hat.
CHARLOTTE BRONTË
Charlotte, die älteste der Schwestern, wird von Zeitgenossen als eine unscheinbare, geradezu verkümmerte Person beschrieben. Sie maß nur vier Fuß, zehn Zoll (1,47 Meter).
Elizabeth Gaskell, ihre spätere Biografin, spricht von ihren schönen, kastanienbraunen Augen, aus denen zuweilen ein Licht schien, »als ob eine geistige Lampe aufflammte, die hinter diesen Augen glühte. Ihre übrigen Gesichtszüge waren ziemlich hässlich …«. Als schön wird sonst nur noch ihr Haar beschrieben. Sie selbst spielt auf ihre Reizlosigkeit mehrfach in einem Ton an, der erkennen lässt, dass sie all ihren späteren Ruhm hingegeben hätte, wenn sie dafür eine schöne Frau hätte sein dürfen.
Eine andere Eigenschaft, unter der sie ihr Leben lang litt, war ihre Schüchternheit. Sie schnürte sich in enge Korsetts und kleidete sich in unauffälliges Grau oder Schwarz, als wollte sie sich unsichtbar machen. Und doch hat manche Berühmtheit, zum Beispiel der Romancier William Makepeace Thackeray, ihre Krallen zu spüren bekommen, wenn sie aus ihrer Reserve herausfuhr und sich auch durch große Namen nicht einschüchtern ließ.
LITERARISCHER DURCHBRUCH UND JÄHES ENDE
1845 waren alle vier Geschwister wieder in Haworth vereint. Charlotte und Emily hatten nach ihrer Rückkehr aus Brüssel keine neue Stellung angetreten, Anne hatte die ihre gerade gekündigt, und Branwell war nach einem Kurzurlaub von seinem Dienstherrn aufgefordert worden, nicht mehr zurückzukehren. Über den Grund ist viel gerätselt worden. Was auch immer vorgefallen sein mag, für ihn begann jetzt der unaufhaltsame Weg in den Abgrund. Er litt an Wahnvorstellungen, versuchte diese in Alkohol zu ertränken oder mit Opium zu bekämpfen und geriet damit in immer tiefere seelische Zerrüttung.
In genau entgegengesetzter Richtung entwickelten sich die Lebensbahnen seiner Schwestern. Da ihnen die verstorbene Tante ein bescheidenes Vermögen hinterlassen hatte, war der Zwang zum Broterwerb von ihnen genommen und sie konnten endlich das tun, wovon sie von Anfang an geträumt hatten, nämlich Bücher schreiben. Anne erwähnte schon am 31. Juli 1845 in ihrem Geburtstagsbrief an Emily ein Manuskript, bei dem es sich um den Entwurf zu »Agnes Grey« gehandelt haben muss. Auch die beiden anderen Schwestern müssen sich um diese Zeit mit Romanprojekten getragen haben. Doch versuchten sie erst einmal für einen gemeinsamen Lyrikband einen Verleger zu finden. Mit einer Selbstkostenbeteiligung von 35 Pfund brachten sie 1846 bei Aylott & Jones den Band »Gedichte von Currer, Ellis und Acton Bell« heraus. Da sie die weit verbreitete Geringschätzung gegenüber schreibenden Frauen kannten, wählten sie männliche Pseudonyme, wobei sie ihre Initialen beibehielten und sich für Vornamen entschieden, die gelegentlich auch als weibliche verwendet werden. In maßloser Überschätzung der Marktverhältnisse ließen sie tausend Exemplare drucken, von denen ganze zwei verkauft wurden.
›Ich fand das Gespräch mit ihr höchst interessant; ihre schnelle, wache Intelligenz war ein Vergnügen … und es war ein Genuss, ihr zuzuhören.‹
Verleger Smith über Charlotte Brontë.
Noch vor Erscheinen des Bandes bot Charlotte dem Verleger die drei in Arbeit befindlichen Romane – ihren eigenen, »The Professor«, Emilys »Wuthering Heights« (Sturmhöhe) und Annes »Agnes Grey« – an, allerdings ohne eigene finanzielle Beteiligung. Sie bekam eine Absage. Emily und Anne, die ihre beiden Romane zusammengebunden anboten, hatten mehr Glück. Der Verleger Newby wollte das Buch herausbringen, allerdings nur mit einem Zuschuss von 50 Pfund. Die beiden willigten ein. Inzwischen hatte
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