Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus
kleinen Stück Flussufer zu verlassen. Er wollte der demütigenden Neugierde entgehen. Sein tägliches Leben war schwer beeinträchtigt; an eine Ehe war nicht zu denken. Die ständige Bedrohung durch einen neuen Anfall nahm ihm den Mut zu vielen Unternehmungen und hemmte ihn wohl auch in seinem Umgang mit Frauen.
Doch dann machte er mit 25 Jahren die Bekanntschaft der 38-jährigen berühmten, aber verheirateten Schriftstellerin Louise Colet, bei der er auf Verständnis traf. Der bis 1855 aufrechterhaltene ausführliche Briefwechsel zwischen ihnen zeigte zum ersten Mal das wahre Genie Flauberts, der sich hier offen mitteilen konnte: »Ich habe auf dem Papier eine Fähigkeit zur Leidenschaft …« Der Mann von Louise Colet, Professor für Musik am Pariser Konservatorium, ertrug die Launen und Liebschaften seiner Frau geduldig, eingeschüchtert von deren Dominanz. Madame Colet verdankte ihre Prominenz und gesellschaftliche Stellung im Wesentlichen ihrer Schwatzhaftigkeit und besonders ihren zahlreichen Liebhabern. Flaubert hoffte, dass ihr rein erotisches Verhältnis durch eine geistige Freundschaft bereichert würde, aber es blieb bei der einseitigen Befriedigung. Während ihres neun Jahre dauernden Verhältnisses trafen sie sich in Paris oder in Nantes, nicht jedoch in Croisset, wo Flauberts Mutter lebte. Er konnte es stets vermeiden, seiner Mutter die Mätresse vorzuführen, so nachsichtig und großzügig die alte Dame auch war. Louise Colet verübelte es ihm, dass sie aus diesem Teil seines Lebens ausgeschlossen blieb; es kam zum Bruch. Die Liebschaften, die Flaubert von da an pflegte, waren dezenter und weniger intensiv.
DIE SEHNSUCHT NACH DER FERNE
Im Frühjahr 1847 starteten Flaubert und Ducamp zu einer dreimonatigen Wanderung durch die Tourraine, die Bretagne und die Normandie. Eine weitere, aber längere Reise begannen sie im Herbst 1849 bis nach Kairo, vornehmlich auch, um Flaubert von seinen Gedanken über eine neue Stiltheorie abzulenken. Auf der Reise konnte er sich weder für Bilder, Skulpturen oder die Architektur noch für andere Sehenswürdigkeiten leidenschaftlich begeistern. Eigentlich hatte er keine Beziehung zur Musik, und auch für die Kunst hatte er kaum einen Sinn – sein Haus in Croisset war mit den geschmacklosesten Reproduktionen bestückt. Auch auf der zweiten Reise in den Orient kam bei ihm keine sonderliche Begeisterung auf. Im Orient sehnte er sich in die Normandie, in der Normandie sehnte er sich nach dem Orient zurück. Sie fuhren den Nil aufwärts nach Alexandria und setzten sich der Wüstensonne aus, besuchten Syrien, den Libanon und Galiläa. Im November hielten sie sich einen Monat in Konstantinopel auf, bevor sie im nächsten Jahr über Griechenland nach Neapel reisten und schließlich noch einen Monat in Rom verbrachten. Flaubert wollte keine Landschaften betrachten, sondern das Gefühl der Weite, der Fremde sowie der Ferne erleben. Erst wenn er wieder zu Hause in Croisset war, tauchten die Eindrücke und Erlebnisse der Reisen mit intensiver Schärfe aus seinem Gedächtnis auf und wurden zu Papier gebracht.
»MADAME BOVARY«
Während einer dieser Reisen entstand das 1800 Seiten starke Manuskript zu seinem Meisterwerk »Madame Bovary«, das in stark verkürzter Form ab dem 1. Oktober 1856 in sechs aufeinander folgenden Heften der »Revue de Paris« erschien. Der Roman erzählt die Geschichte der jungen Dorfarztfrau Emma Bovary, die unzufrieden mit ihrem Mann und ihrem Leben ist. Nach dem Vorbild von Romanen und Frauenzeitschriften erträumt sie sich ein Leben in Leidenschaft und Luxus. Mittels zweier Liebesverhältnisse gelingt es ihr zumindest ansatzweise, diesen Traum zu realisieren. Aber immer wieder wird sie von der Trivialität und Enge ihrer häuslichen Verhältnisse eingeholt, bis sie schließlich – von Schulden erdrückt – Selbstmord begeht: das Scheitern einer romantischen Idealistin an einer materialistischen Welt.
Flaubert handelte sich – noch ehe die Buchausgabe im April 1857 erschien – bereits einen Prozess wegen »Verstoßes gegen die öffentliche Moral, die guten Sitten und die Religion« ein. Die Anklage warf Flaubert die Verherrlichung des Ehebruchs vor. Er verteidigte sich im Prozess mit dem Argument, man müsse hier nicht ihn, sondern die Gesellschaft anklagen, da die Religion durch den Devotionalienkult verharmlost und die jungen Mädchen nicht zur Religion, sondern zum Kitsch erzogen würden. Dieser kann denn auch im Roman als gemeinsamer Nenner
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