Worte bewegen die Welt - Die großen Dichter und Schriftsteller - Realismus und Naturalismus
Schriftsteller für Faulpelze und Nichtsnutze hielt, auf Unverständnis. Seine um drei Jahre jüngere Schwester Caroline war hingegen vom Talent ihres Bruders überzeugt und unterstützte ihn bei seiner Arbeit, wo sie nur konnte. Die Briefe, die Flaubert ihr schrieb, zeigen ihre enge Verbundenheit und offenbaren zugleich wesentliche Charakterzüge des Schriftstellers – neben seiner Reizbarkeit und Angriffslustigkeit auch Einfältigkeit, Empfindsamkeit und tiefe Liebe. Flauberts Schwester starb bereits 1846, drei Tage nach der Geburt einer Tochter; seine Zuneigung übertrug sich nach ihrem Tod auf die Nichte.
EIN EMPFINDSAMES GEMÜT
Die Familie wohnte – wie es damals üblich war – in einer an das Krankenhaus angrenzenden Dienstwohnung, sodass die Kinder bereits früh das Leiden der Patienten, den Schmerz und Tod miterlebten. Der Vater arbeitete bis zur Erschöpfung und gönnte sich keine Schonung. Flaubert und seine Schwester kletterten häufig an dem Krankenhausgitter hinauf zu den Fenstern und sahen von ihrem Versteck aus zu, wie ihr Vater Autopsien durchführte. Diese Erlebnisse hinterließen einen prägenden Eindruck in Flauberts düsterem Charakter. Dennoch war seine Kindheit fröhlicher, als man annehmen möchte. Er liebte es, sich Geschichten erzählen zu lassen, wobei er den Erzähler mit seinen großen blauen Augen unbeweglich anschaute. Danach war er stundenlang ruhig, verträumt und, mit einem Finger im Mund, ganz in Gedanken versunken. Die Haushälterin, die 52 Jahre lang in der Familie diente und ihm mancherlei Geschichte erzählte, verewigte er später als Charakterbild in »Ein einfaches Herz«, einer der 1877 veröffentlichten drei Erzählungen. Flaubert erfand in dieser Zeit auch eigene Theaterstücke, die er in der elterlichen Wohnung aufführte.
›Schreiben ist eine köstliche Sache; nicht mehr länger man selbst zu sein, sich aber in einem Universum zu bewegen, das man selbst erschaffen hat.‹
Gustave Flaubert
Seine anfänglichen Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben wurden von der Familie als Dummheit angesehen. Zu seinem Glück konnte er das Internat von Rouen als Externer besuchen, zumal er das Leben dort wegen seiner Überempfindlichkeit wohl nicht lange ertragen hätte. Mit elf Jahren, erheblich verspätet also, trat er in die Sexta ein, wo ihn zum ersten Mal ein Gefühl der Minderwertigkeit, gleichzeitig aber auch der Überlegenheit erfasste. Er fühlte sich schikaniert, missverstanden, und zugleich getragen von seiner Größe, der Weite seines Geistes, über die anderen erhoben durch seine Ironie. Seine spätere Schüchternheit und sein früher Ekel vor dem Leben können zum Teil auf diese Zeit zurückgeführt werden. In der Kunst und den durch sie vermittelten Werten sah er die einzige Möglichkeit, um sich aus dem Alltag zurückzuziehen – dabei hing er den bereits überholten Idealen der Romantik nach, von denen er sich erst nach seiner Abschlussprüfung 1840 löste.
REALISMUS ALS EPOCHENBEGRIFF
Als Epochenbegriff bezeichnet der Realismus in nahezu allen europäischen Literaturen die Zeit zwischen 1830 und 1880, die Periode zwischen dem Ende des spätromantischen Idealismus und der Radikalisierung der Kunstauffassung im Naturalismus.
Ihm liegt ein Verständnis von Wirklichkeit und den Aufgaben der Kunst zugrunde, das von der klassisch-humanistischen und der romantischen Weltsicht völlig verschieden ist: Kunst soll ein wahres Bild des menschlichen Lebens bieten, das auf genauer Beobachtung der Lebensformen aufbaut. Formale Kennzeichen sind Beschreibungen mit realistischer Genauigkeit, exakte Milieuschilderungen und psychologisch exakt gezeichnete Personen.
Grundlegend in Theorie und Praxis war der französische Realismus, der durch gesellschaftskritische Themen und eine zum Teil desillusionierende Haltung geprägt war. Flaubert verzichtete in »Madame Bovary« auf einen individuell vermittelnden Erzähler und gehörte – auch wenn er dieser Richtung nicht zugeschrieben werden wollte – zu den wichtigsten literarischen Realisten Frankreichs.
›Die Form der Kunst ergibt sich aus dem Inhalt, wie die Wärme aus dem Feuer.‹
Gustave Flaubert
Von Kindheit an konnte Flaubert in seiner Nähe niemanden herumlaufen oder beschäftigt sehen, ohne in Wut zu geraten – »man kann nur im Sitzen denken und schreiben«, sagte er. Die von dem sensiblen Knaben als grausam empfundene Schulzeit prägte ihn nachhaltig. Er lebte fortan zurückgezogen nur noch für sich allein,
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