Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
die Stirn. »Und
nun soll ich glauben, dass Sie nicht nachgefragt haben?«
»Wie gesagt, es war nach einer Party. Wir
waren beide nicht mehr ganz nüchtern, und ich begleitete Claudine bis zu ihrem Zimmer,
weil sie sich im Dunkeln fürchtete. Damals glaubte ich, sie habe Angst vor rechten
Schlägertrupps.« Meinert Hagen sah Nachtigall zornig an. »Ein Problem, das die Polizei
offensichtlich nicht in den Griff bekommt – oder bekommen will«, zischte er böse.
Der Ermittler seufzte.
»Das ist nicht so einfach, wie Sie vielleicht
denken. Wir können nicht alle jungen Leute wegsperren, die glatzköpfig, angetrunken
und mit entsprechendem Outfit durch die Straßen gehen. Gerade hier an der Uni gäbe
es gewaltigen Widerspruch, würden wir nach so simplen Kriterien vorgehen. Nein,
nein – den Rechten müssen Sie Straftaten nachweisen – wie jedem anderen auch. Und
der implizite Vorwurf, die Polizei sei ebenfalls rechtslastig – trifft jedenfalls
weder für mich noch meine beiden Kollegen zu. Ich bin nicht der richtige Ansprechpartner
für diese Vorwürfe«, stellte er dann deutlich klar.
Meinert Hagen zog den Kopf ein. Zwei Meter
aufbrausender Hauptkommissar waren ihm unheimlich.
»So habe ich das vielleicht gar nicht gemeint«,
lavierte der junge Mann. »Sie haben ja recht. Aber der Unmut in der Bevölkerung
über die Untätigkeit der Polizei – auch wenn dieser Eindruck falsch sein mag – ist
nun einmal Realität. Bei mir wurde vor ein paar Tagen eingebrochen. Nichts passiert.
Ich habe es nur daran gemerkt, dass jemand bei mir im Bad Dinge nicht an ihren angestammten
Platz zurückgelegt hat. Ihre Kollegen waren nicht besonders interessiert.« Er verstummte
plötzlich, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er schluckte mehrfach hart,
bevor er weitersprechen konnte. »Jedenfalls habe ich Claudine gefragt, ob sie befürchte,
von rechtsextremistischen Jugendlichen überfallen zu werden – doch sie antwortete
nicht. Verstehen Sie – die Tatsache, dass sie meinen Schutz brauchte, ihr Leben
bedroht war, machte sie in meinen Augen geheimnisvoller und begehrenswerter, als
sie mir ohnehin schon erschien.«
Ja, das konnte Nachtigall gut verstehen.
Der viel beschworene Beschützerinstinkt.
Meinert Hagen schwieg, und seine Augen blieben
gedankenverloren an dem Stapel Bücher hängen, den er neben sich aufgetürmt hatte.
Nach einer langen Pause fragte Nachtigall:
»Sie haben auch später nicht herausgefunden, warum sie sich fürchtete?«
»Nein«, der Student atmete tief aus. »Claudine
und ich trafen uns regelmäßig – wir liebten uns. Doch als ich versuchte, die Beziehung
zu vertiefen, sie zu überreden bei mir einzuziehen, mit ihr Pläne für die Zukunft
zu machen, da blockte sie ab. Sie meinte, sie könne sich erst danach an mich binden,
ich solle mich gedulden.«
»Danach?«
»Ja«, Meinert Hagen lachte unfroh. »So habe
ich sie auch gefragt. Und Claudine antwortete mir, danach bedeute, wenn sie alles
erledigt habe und nichts mehr zu befürchten sei.«
»Aber worum es ging, haben Sie auch bei
dieser Gelegenheit nicht erfahren.«
»Nein. Nichtwisser seien sicher, erklärte
sie.«
»Klingt, als habe sie etwas über eine bestimmte
Person gewusst, was derjenigen sehr schaden konnte.«
Nachtigall standen die Bilder der Obduktion
vor Augen. Die leeren Augenhöhlen, die amputierte Zunge, die abgetrennte Nase –
plötzlich durchzuckte ihn siedend heiß ein neuer Gedanke. Gab es doch einen Mitwisser?
Jemanden, der durch diesen Mord in aller Deutlichkeit gewarnt werden sollte?
»Hören Sie, Herr Hagen, wenn Nichtwissen
schützt, gefährdet Mitwissen. Das bedeutet, jeder, der von Claudine möglicherweise
ins Vertrauen gezogen wurde, schwebt in Gefahr. Wenn sie sich nicht an Sie gewandt
hat, an wen denn dann?«
Meinert Hagen überlegte lange.
Dann schüttelte er bedauernd den Kopf.
»Hier auf dem Campus hatte sie nur wenige
echte Freunde. Die Namen haben wir Ihnen schon gegeben. Und da sie schon mir nichts
verraten hat …«
»Hoffentlich weiß das der Mörder auch«,
murmelte Nachtigall, und der Student warf misstrauische Blicke in die Runde.
Albrecht Skorubski hatte Kirk Damboe am Frühstückstisch
angetroffen. Er wohnte bei einem Cousin seines Vaters, der bei ›Vattenfall Mining‹
beschäftigt war. Wenig begeistert von der morgendlichen Störung, bot er Skorubski
in mauligem Ton einen Kaffee an.
»Danke, gerne.«
Mit geübten Handgriffen entnahm der müde
Student dem Hängeschrank einen
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