Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
Strömen.
Später konnte Madeleine Treschker nicht sagen, wann genau
Gédé zu ihnen gestoßen war. Plötzlich fuhr er in einen der Anhänger und bewegte
sich für die nächsten Stunden mitten unter ihnen. Sicher war sie sich aber, dass
er erschien und ihr seltsame Blicke zugeworfen hatte. An diesem Abend war der ›Totengott‹
nicht so zugewandt und kommunikationsfreudig wie sonst. Er verweigerte sich dem
Gespräch mit anderen Gläubigen, war nicht bereit, die vielen Fragen nach ihrem persönlichen
Schicksal oder der Zukunft ihrer Kinder zu beantworten, und saß stattdessen meist
neben Papa Desmond, tief in ein Gespräch versunken.
Sie hatte ihn nur immer wieder besorgt den
Kopf schütteln sehen. Dem Rum wurde eifrig zugesprochen. Gédé lud, wie erwartet,
alle Mitglieder der Société ein, mit ihm zu trinken, ein Angebot, das niemand leichtfertig
abzulehnen wagte. Auch Madeleine Treschker versuchte ihren Schmerz damit zu vertreiben,
und so dauerte es nicht lange, bis sich ihr Wahrnehmungsvermögen trübte und sie
den Ereignissen und Diskussionen des Abends kaum mehr folgen konnte.
Am nächsten Morgen erwachte sie auf dem
Betonboden des Gebäudes und brauchte einige Sekunden, um sich zu vergegenwärtigen,
wo sie war. Jemand hatte fürsorglich eine Isomatte unter ihr ausgebreitet und ihren
Körper mit warmen Decken vor dem Auskühlen bewahrt.
Träge sah sie sich um.
Von der Zeremonie waren nur einige Blutspuren
und Rumflecken übrig geblieben. Also musste wohl das Huhn doch noch geschlachtet
worden sein. Vorsichtig forschte sie in ihrem Gedächtnis, konnte sich aber nicht
daran erinnern.
»Na, geht es dir nun besser?«
Sie fuhr herum.
Papa Desmond stand neben dem Altar, auf
dem noch immer die Kerze flackerte, und lächelte sanft zu ihr herüber. Er musste
wohl die ganze Nacht hier gewesen sein, hatte ihren Schlaf bewacht.
»Nein«, antwortete sie ehrlich.
»Das war auch nicht zu erwarten. Du musst
den Verlust erst verkraften. Ich kann dir allerdings versichern, dass Gédé auch
der Meinung ist, es träfe dich keine Schuld an Claudines Tod. Sie selbst glaubt
das auch nicht. Die Information, die wir bekommen haben, ist: Sie war sich der Gefahr
bewusst und handelte nach ihrem Herzen. Der Mord an ihr war schändlich, kam aber
nicht unerwartet. Du musst dir keine Sorgen darüber machen, dass sie dir vielleicht
zürnen könnte.«
Seine Stimme klang nun völlig anders als
während der Kulthandlungen, stellte Madeleine überrascht fest. Statt tief, autoritär
und voll war sie eher hoch und emotional gefärbt. Aber heute Morgen war auch keiner
der Götter mehr hier, die durch die Macht des Priesters gebändigt werden mussten,
damit sie sich nicht zum Schaden der Gläubigen hemmungslos auslebten.
»Das ist immerhin ein kleiner Trost«, schniefte
die große Frau.
Der Priester war mit seinen Erläuterungen
noch nicht fertig, das spürte sie.
»Es gibt ein Problem. Aber wir können es
lösen.«
»Ein Problem?«, fragte sie nun ängstlich.
»Der Zauberer, der Claudine den Tod schickte,
hat zur gleichen Zeit einige Dämonen entsandt. Ich habe nun erfahren, dass sie bereits
dein Haus erreicht haben.«
Madeleine Treschker schrie spitz auf.
»Die Polizei hat die Schutzzauber aus Claudines
Zimmer entfernt. Sie sind nun wirkungslos. Auch dort lauern womöglich einige dieser
Kreaturen.«
Die Frau begann zu zittern.
»Was kann ich tun?«, hauchte sie, als der
Priester hartnäckig schwieg.
»Ich habe hier einige Quaggas. Die hängen
wir später an den vier Seiten deines Hauses auf. Aber das wird nicht reichen.«
»So mächtig sind sie?«
»Vergiss nicht, dass auch ich Macht habe.
Meine ist stärker und wird sie vertreiben«, verkündete der Priester selbstbewusst.
Papa Desmond trat hinter den Altar und kam
mit einem Gebilde aus Holzlatten wieder zum Vorschein, das wie ein Käfig anmutete.
Madeleine hielt den Atem an. So etwas kannte
sie nur vom Hörensagen, und nun sollte sie es selbst einsetzen?
»Eine Falle«, erklärte der Priester. »Du
wirst sie in deinem Haus aufstellen. Am besten dort, wo sich die Wege kreuzen, denn
dort werden sie oft vorbeikommen. Leg Stroh und etwas Obst hinein, eine Flasche
Rum. Manche mögen das, und so wird die Sache einfacher.«
»Du meinst, sie gehen einfach dort hinein?«
»Nein.« Er lächelte nachsichtig. Das Leben
in Deutschland hatte bei vielen Anhängern seiner Gemeinde das uralte Wissen in Vergessenheit
geraten lassen. Er war es gewohnt, Selbstverständliches
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