Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
konnte.
Vielleicht, überlegte Heide, vielleicht
hatte ihr Tod ja gar nichts mit dieser anderen Angelegenheit zu tun. Eine schöne
farbige Frau konnte durchaus aus anderen, ganz banalen Gründen ermordet werden.
Ausländerfeindlichkeit, Neid, Geldgier.
Du willst nur deine eigene Angst zum Schweigen
bringen, räumte sie ehrlich ein, es wäre dir am liebsten, man könnte nachweisen,
der Mörder habe es nur auf Claudines Geld abgesehen gehabt. Dann müsstest du dir
keine Sorgen mehr um dein eigenes Leben machen! Du bist feige!
Müde schloss sie ihren Spind und nahm ihren
Platz hinter der Theke ein, wo schon hungrige Kunden warteten. Trotz der unleugbaren
Tatsache, dass sie sich nicht wohl dabei fühlte, hatte sie beschlossen zu arbeiten,
um sich abzulenken.
Er fiel ihr sofort auf.
Woran es lag, konnte sie nicht sagen.
Er war nicht besonders groß und bewegte
sich auch nicht so, als gebe er sich Mühe, nicht aufzufallen. Dennoch spürte sie
sofort die unmittelbare Gefahr, die von ihm ausging. Selbst ihr Körper spürte die
Bedrohung – es begann in ihrem Magen aufgeregt zu kribbeln, der Schweiß brach ihr
aus.
Du solltest doch zur Polizei gehen, entschied
sie, wenn du so weitermachst, wirst du noch völlig durchdrehen.
Der auffällige Kunde stellte sich in die
Reihe vor ihrer Kasse und bestellte ruhig ein ›Maxi-Menü‹, eine große Cola und einen
›Coffee to go‹. Mit zitternden Fingern tippte Heide seine Order in die Kasse ein
und packte mit abgehackten, ungelenken Bewegungen einen Burger, Pommes und die Cola
in eine braune Papiertüte. Beim Einschenken des Kaffees verbrühte sie sich, der
Becher rutschte ihr aus der Hand, und sie schüttete sich den heißen Inhalt über
ihre Hose. Als sie sich entschuldigend umwandte, verschwand gerade ein Lächeln aus
seinem Gesicht, das sie ohne jede Einschränkung als befriedigt bezeichnen konnte.
Rasch goss sie dem Fremden einen frischen Kaffee ein und reichte ihm die Tüte.
Er hatte den zu zahlenden Betrag passend
in der Hand.
Mit zitternden Knien stützte sie sich gegen
den Tresen und bemühte sich um ein professionelles Lächeln für den nächsten Kunden.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Hi, meine Süße. Ich habe gehört, deine
schwarze Freundin hat einer um die Ecke gebracht. Prima. Nun muss ich mir nicht
mehr gefallen lassen, dass sie mit ihren Händen mein Essen angrabbelt! Eine große
Pommes und eine große Cola!«
25
Haiti
Ein grobschlächtiger Kerl, muskelbepackt, mit Händen groß
wie Schüsseln stieß die ängstlichen und von der Anrufungszeremonie noch benommenen
Frauen auf die Ladefläche des Pick-ups.
»Hinlegen!«, kommandierte er dann und zog
eine dicke Plane über ihre Leiber. Ein leises Wimmern war zu hören.
»Haltet den Mund!«, herrschte er die Frauen
an. »Wenn wir auffliegen. Ihr wisst schon!«
Das Wimmern verstummte augenblicklich.
»Gut!«, lobte er fies.
Die Fahrt würde viele Stunden dauern. Sie
konnten selbstverständlich nicht die Hauptstraßen nehmen, sondern mussten auf staubige,
unbefestigte Nebenstraßen ausweichen, staubige, holprige Wege, die fernab der Dörfer
in Richtung Küste führten.
Tagsüber wurde es unerträglich heiß unter
der Plane, und Wasser gab es nur wenig. Je mehr Flüssigkeit sie bekamen, desto häufiger
stellt sich der Druck auf die Blase ein, und Zeiten für Pausen waren nicht vorgesehen.
An Schlaf war nicht zu denken. Die Körper wurden heftig durchgeschüttelt, stießen
sich schmerzhaft an den Metallkanten des Transporters. Wenn es gar nicht mehr auszuhalten
war, begannen sie, mit den Fäusten gegen die Glasscheibe der Fahrerkabine zu klopfen,
erst zaghaft, dann stärker, immer entschlossener. Manchmal hielt der Pick-up daraufhin
in einem Waldstück, und man gönnte ihnen einige Momente der Erholung.
Keine der Frauen wusste genau, was sie erwartete.
Andere hatten diesen Weg vor ihnen gewählt,
um Not, Elend und politischer Instabilität zu entkommen. Zurückgekehrt war keine
von ihnen. Nachrichten der Entflohenen waren die Ausnahme, die darin enthaltenen
Informationen eher spärlich.
Dennoch – diese Mitteilungen bewiesen, dass
man es schaffen konnte und die Horrorgeschichten über skrupellose Schlepper, die
all jene Frauen, die sich ihnen anvertraut hatten, umbrachten und nie von der Insel
gebracht hatten, obwohl sie dafür mehr als fürstlich entlohnt worden waren, nicht
stimmten.
In diesen seltenen Pausen träumten sie von
der Zukunft.
Erzählten sich von all den Plänen, die
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