Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
sie
hatten, stellten ihre Zuversicht zur Schau.
Natürlich stimmte es, überall wo sie hinkämen,
wären sie Illegale. Aber sie fürchteten sich nicht. Waren eher im Gegenteil ein
wenig stolz darauf, den Mut aufgebracht zu haben, sich auf eine solch waghalsige
Unternehmung einzulassen. Das Ritual diente der Absicherung der Schlepper, hatte
man ihnen erzählt, und sie verstanden selbstverständlich, dass bei einer solchen
Aktion die Verschwiegenheit der Beteiligten gewährleistet werden musste.
Zu dieser Zeit schien ihnen jedes Leben
besser als das, welches sie auf Haiti führten.
Und wenn der Pick-up weiterfuhr, träumten
sie noch lange weiter.
26
Den Experten für Fragen des Voodoo traf Nachtigall auf
dem Flur vor seinem Büro, als er von der Besprechung mit Dr. März zurückkehrte.
»Robin Lang«, stellte der Besucher sich
vor. »Sie brauchen jemanden, der sich mit Voodoo auskennt?«
»Peter Nachtigall, Albrecht Skorubski, Michael
Wiener«, machte der Hauptkommissar alle miteinander bekannt. »Schön, dass Sie so
schnell kommen konnten«, begrüßte er den korpulenten Herrn dann herzlich.
Der Fachmann für Voodoo war ihm spontan
sympathisch. Die grünbraunen Augen schimmerten amüsiert, die Lippen waren wulstig
und die Hände weich. Mit seinen knapp 1,80 Metern war er gerade so groß wie Michael
Wiener, zu Nachtigall musste er aufsehen.
Rasch einigten sich die vier, in einen der
Besprechungsräume zu wechseln – das Büro war zu eng. Wiener schnappte sich noch
ein paar Fotos von seinem Schreibtisch, ehe er den anderen folgte.
»Sie haben mich eingeladen, weil Ihr aktueller
Fall Bezüge zum Voodoo-Glauben aufweist?«
»Ja«, bestätigte Nachtigall. »Tatsächlich
ermitteln wir in einem noch ungeklärten Mordfall. Opfer ist eine haitianische Studentin.
In ihrem Zimmer fanden wir einige Dinge, die auf Voodoo hindeuten.«
Michael Wiener breitete die Fotos auf dem
Tisch aus.
Robin Lang nahm die Bilder nacheinander
in die Hand und betrachtete sie konzentriert. Dann legte er sie zurück und fuhr
sich durch seine dichten, schwarzen Locken.
»Sie haben eindeutig recht mit Ihrer Vermutung.«
Der Experte lehnte sich auf seinem Stuhl
zurück und verschränkte die Finger vor der Weste seines hellgrauen Nadelstreifenanzugs.
Mit einem Ruck stieß er sich plötzlich ab und rückte nah an den Tisch heran. Mit
seinen fleischigen Fingern zeigte er auf einige der Aufnahmen.
»Hier, hier und hier. Das sind alles Schutzzauber.
Sie muss einen mächtigen Feind gehabt haben. Das ist keine gewöhnliche Vorsichtsmaßnahme
gegen die Unbilden des Alltags – sie hatte Angst vor dem Tod. Wer diese Schutzzauber
verwendet, glaubt, jemand versuche ihn mit einem Puppenzauber zu bedrohen oder habe
gar einen Baka, einen Dämon, mit seiner Tötung beauftragt.«
Peter Nachtigall war bei dem Wort Puppenzauber
merklich zusammengezuckt. Robin Lang warf ihm einen nachdenklichen Blick zu.
»Freunde von ihr berichteten uns, sie sei
ängstlich und besorgt gewesen«, erklärte Skorubski.
»Sie wusste offensichtlich ganz genau, worauf
sie sich vorzubereiten hatte. Irgendjemand wünschte ihr den Tod.«
»Es hat funktioniert. Sie ist tot«, stellte
Nachtigall unnötig schroff klar, und wieder streifte ihn der seltsame Blick aus
Robin Langs Augen.
»Sie suchen aber nicht nach einem Baka.«
»Nein. Tun wir nicht. Wir fahnden nach einem
Täter aus Fleisch und Blut.«
»Was ist denn ein Baka überhaupt? Ich kenne
nur Zombies«, warf Michael Wiener ein, und der schwere Voodoo-Experte lachte melodisch.
»Das geht den meisten Menschen so. Sie lesen
in der Pubertät diese Groschenheftchen, in denen Untote gejagt und Werwölfe zur
Strecke gebracht werden. Dachten Sie an so etwas?«
Wiener nickte verlegen. Er fühlte sich ertappt.
»Nun, diese Art Zombies gibt es nicht. Sie
sind eine reine Erfindung der Horrorgeschichtenerzähler. Aber im Voodoo kennt man
sehr wohl echte Zombies.« Robin Lang sah in die Runde und war zufrieden mit der
Wirkung seiner Worte.
»Das sind bedauernswerte Menschen, deren
Geist so verwirrt wurde, dass sie wie willenlose Maschinen agieren. In Ihrer Kultur
würden Sie vielleicht sagen, sie haben ihre Seele verloren. Erreicht wird dieser
Zustand mittels einer Droge. Sie wird dem Ärmsten verabreicht, und er stirbt. Er
zeigt alle Anzeichen des Todes. Man beerdigt ihn, und ein paar Tage nach seinem
offiziellen Tod wird er in einem nächtlichen Ritual exhumiert und wiedererweckt.
Man schlägt ihn, schreit ihn an und
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