Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
verkauft ihn später zum Beispiel an einen Bauern,
der Hilfe auf dem Feld braucht. Zu diesem Zeitpunkt ist er nicht mehr als eine willenlose
Hülle, die Aufträge ausführt, die sie bekommt. Als Tötungsmaschinen sind diese erbarmungswürdigen
Menschen nicht einsetzbar – das ist ein Märchen der Gruselfilmproduzenten. Es ist
die schrecklichste Strafe im Voodoo, und es gibt wohl nichts, was der Gläubige mehr
fürchtet.«
Schweigend hörten sie dem Voodoo-Fachmann
zu.
»Und ein Baka?«, fragte Wiener nach einer
langen Pause.
»Ein Baka ist das spirituelle Gegenstück
zum menschlichen Zombie. Ein Baka ist eine körperlose Seele, die von einem Zauberer,
einem sogenannten Bokor, eingefangen wird. Sie muss sich fortan seinem Willen unterwerfen
und wird in seinem Auftrag als Dämon arbeiten. Dämonen bringen Krankheiten und Unglück,
sie sind gefürchtet. Aber der Gläubige kann sich ihrer erwehren und sie von einem
Priester fangen oder bannen lassen.«
»Es kann einem Menschen nach dem Tod also
sowohl das eine wie das andere passieren?«, wollte Albrecht Skorubski wissen.
»Ja. Es gibt im Voodoo Zombies und Astralzombies.
Beide Formen sind nicht angenehm. Um einen echten Zombie zu schaffen, muss der Betroffene
tatsächlich für tot erklärt werden. Er hat weder Puls noch Atmung. Ärzte finden
keine Lebenszeichen mehr.«
»Unheimlich!«
»Ja, Voodoo ist eine Religion, die für Christen
nur schwer zu begreifen ist. Der Gläubige sieht sich nicht als Individuum, sondern
versteht seinen Körper als Heim eines übergeordneten Geistes. Am nächsten kommt
dem die christliche Vorstellung der Seele. In den religiösen Ritualen beschwören
Priester Loas, so etwas Ähnliches wie Gottheiten. Jeder verkörpert etwas anderes.
Bei diesen Zeremonien schlüpft die Seele des Gottes in den Körper eines Gläubigen.
Man nennt das ›Reiten‹ – der Loa reitet sein Pferd. Es werden Opfer gebracht, getrunken,
getanzt, und man kann den beschworenen Gott dabei um Gefälligkeiten bitten.«
»Aha. Und diese Leute nehmen keinen Schaden
dabei?« Wiener staunte.
»Nein, nein«, versicherte Robin Lang. »Es
ist eine große Ehre, von einem Gott auserwählt worden zu sein. Vielleicht kann man
es als positive Form der Besessenheit bezeichnen. Es gibt sogar Gläubige, die einen
langen Weg der Initiation durchlaufen, um am Ende mit einem Gott eine dauerhafte
Verbindung einzugehen – sie heiraten.«
»Wie, der Gott schlüpft dann für immer in
den Körper des Menschen?«, fragte Albrecht Skorubski ungläubig. »Aber, dann kann
der ja sein Leben lang nicht mehr er selber sein.«
»Das ist das Ziel. Die Gottheit nimmt den
Platz ein, den zuvor die Seele innehatte. Diese Seele geht aber nicht verloren.
Der Priester bewahrt sie bis zum Tod des Initiierten im Tempel auf und gibt sie
ihm zurück, wenn der Gott seinen Körper verlässt.«
»Und so lange schwirrt sie frei herum?«,
fragte Michael Wiener, der gebannt an Robin Langs Lippen hing. Das waren faszinierende
Dinge, von denen er hier erfuhr, fremd und auch ein wenig beängstigend.
»Nun – nein. Der Priester bewahrt sie in
einem speziellen Gefäß auf, das sie nicht verlassen kann.«
»Und was passiert mit der Gottheit, wenn
der Mensch stirbt?«
»Oh – die sucht sich einen neuen Körper.
Eine neue Heimat eben.«
»Ich habe gehört, dass es Rituale gibt,
die zum Tod eines bestimmten Menschen führen. Stimmt das etwa auch?«, fragte Wiener
weiter.
Albrecht Skorubski bemerkte, wie sich Nachtigalls
Miene versteinerte und er seine Zähne so fest aufeinander presste, dass die Kiefergelenke
deutlich hervortraten. Überhaupt, fiel ihm jetzt auf, hatte der Freund nur schweigend
am Tisch gesessen und vor sich hin gebrütet. Auch Robin Lang schien Nachtigalls
Reaktion zu bemerken, äußerte sich aber nicht dazu. Stattdessen lächelte er den
Fragesteller milde an.
»Als Ermittler bei Kapitalverbrechen muss
Sie das naturgemäß besonders interessieren. Und tatsächlich: Die Gläubigen sind
fest davon überzeugt, dass Menschen selbst über große Distanz durch einen speziellen
Zauber getötet werden können.«
»Das funktioniert aber nicht wirklich, nicht
wahr?«
»Doch«, mischte sich nun überraschend Nachtigall
ein. »Es funktioniert.«
»Aber doch nur, wenn der Betroffene weiß,
dass ihm jemand den Tod wünscht, und dann nervös und hysterisch wird«, behauptete
Skorubski. »Es ist eine Art Psychose.«
»Nein. Der Zauber wirkt auch, wenn der andere
nichts davon ahnt.« Robin Lang strich
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