Wortlos: Peter Nachtigalls fünfter Fall (German Edition)
unberührt
vor.«
»Du liebe Zeit – vielleicht hat die Nichte
bei einem Freund übernachtet und den Termin mit der Tante schlicht vergessen«, gab
Nachtigall zu bedenken. »Hat sie das Opfer denn schon identifiziert?«
»So gut wie.«
»Bedeutet?«
»Sie hat ein Foto ihrer Nichte bei den Kollegen
abgegeben. Hier!« Michael Wiener reichte Nachtigall einen Schnappschuss. »Das ist
doch eindeutig unser Opfer, oder?«
Albrecht Skorubski betrachtete das strahlende
Gesicht der jungen Frau skeptisch. »Glaubst du?«
»Ja. Kein Zweifel!«, bekräftigte Wiener.
»Sie war hübsch.«
»Ja – und zumindest, als dieses Bild gemacht
wurde, auch fröhlich«, meinte Nachtigall mit belegter Stimme. »Die Tante weiß noch
nicht, dass wir glauben, ihre Nichte gefunden zu haben?«
»Nein. Der Kollege, der die Meldung aufgenomme’
hat, wusste wohl gar nichts von dem Mord.«
»Haben wir schon einen Bericht über die
Befragung der Gäste der Jugendherberge?«
»Ja – die Kollegen haben jeden einzeln befragt.
War auch kei’ Problem, zurzeit wohne’ dort überhaupt nur zwei junge Männer. Und
die haben nichts bemerkt. Vielleicht sollte’ wir einen Aufruf in die Presse gebe’.
Dann fällt möglicherweise jemandem ein, dass er doch etwas beobachtet hat.«
Nachtigalls Telefon klingelte.
»Ich komme«, antwortete er mager nach einer
langen Phase des Zuhörens.
»Dr. Pankratz ist da«, informierte er die
Kollegen, sah unschlüssig von einem zum anderen und entschied: »Michael, wir fahren!«
Während Albrecht Skorubski erleichtert hinter
seinem Schreibtisch Platz nahm, um den Bericht über ihre bisherigen Ermittlungsergebnisse
in den Computer einzugeben, erläuterte Nachtigall Michael Wiener, dass sie diesmal
nicht allein der Obduktion beiwohnen würden.
»Es ist ein Fall, der viel Aufmerksamkeit
auf sich zieht. Dr. März wird vielleicht kommen, und sicherheitshalber ist auch
ein Kollege vom BKA dabei. Bei einem möglichen ausländerfeindlichen Hintergrund
sind natürlich alle sensibilisiert und hochgradig nervös. Dieser Kollege vom BKA
übernimmt die Ermittlungen, falls sich Hinweise in diese Richtung ergeben. Der Generalbundesanwalt
wurde schon vorab darüber informiert, dass es in Cottbus einen Mordfall gegeben
hat, der möglicherweise dem rechtsradikalen Milieu zuzuordnen ist.«
Unbehaglich rutschte er in seinem Sitz hin
und her.
Michael Wiener grinste verschmitzt.
»Es wird schon keiner was merken«, versuchte
er Nachtigall zu beruhigen.
»Was wird keiner merken?«, fragte der Hauptkommissar
gereizt zurück.
»Na, dass du den Tod nicht ertragen kannst.«
9
Haiti
Der Hungan, der Priester der Gemeinde, überprüfte sorgfältig
die Vorbereitungen für das große Ritual, das er am Abend zelebrieren würde.
Die bevorzugten Speisen des Loa, den zu
beschwören er geplant hatte, lagerten in einem separaten Raum. Schwarze Kerzen,
violette Blüten, Kupfermünzen standen bereit. Das Hühnerblut würde er erst kurz
vor der Zeremonie hereinholen, damit es tatsächlich frisch und lebendwarm war. Kohle
wartete in den unterschiedlichsten Behältnissen darauf, zum Glühen gebracht zu werden.
Das Opfertier, das die Bitte unterstützen
und den Loa in gute Laune versetzen sollte, meckerte im Stall.
Er überzeugte sich davon, dass es dem Bock
an nichts fehlte.
Die Petro Loas waren heikel.
Sie konnten einem Priester Fehler während
der Zeremonie sehr übel nehmen und ihn sogar dafür bestrafen.
Er musste vorsichtig sein.
Der Priester seufzte leise.
Seine Gemeinde war arm.
Bei vielen Mitgliedern reichte das Einkommen
nur für das Nötigste.
Das heutige Ritual war bestellt und sehr
gut bezahlt worden; er und sein La Place, der Zeremonienmeister, würden dafür Sorge
tragen, dass es perfekt ablief – gerne oder gar aus Überzeugung tat er es nicht.
Es barg immer ein gewisses Risiko, die Petro Loas um Beistand zu bitten. Sie waren
in ihren Reaktionen unberechenbar, was nichts mit den Fähigkeiten des Priesters
zu tun hatte – seine waren über jeden Zweifel erhaben –, sondern mit dem Wesen dieser
Götter. Als böse im landläufigen Sinne konnte man sie nicht bezeichnen, wenngleich
ihre Unterstützung eher bei moralisch zweifelhaften Anliegen erbeten wurde.
Sie verhielten sich unvorhersehbar, ihre
aggressive Grundtendenz konnte sich im ungünstigsten Fall auch gegen den Bittsteller
oder seinen Priester wenden.
Die Auftraggeber brachten heute Abend ein
paar Frauen mit. Es galt, den Herrn der Finsternis, Baron
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