Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
hingegen, die nicht mit überragender Begabung ausgestattet sind – die gerade so über die Runden kommen –, sind schon von Jugend an gezwungen, an sich zu arbeiten. Sie müssen ihre Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer durch Übung steigern, um auf diese Weise (bis zu einem gewissen Grad) ihre geringere Begabung wettzumachen. Aber während sie sich plagen, könnte es geschehen, dass sie ihr wahres, verborgenes Talent entdecken. Schwitzend graben sie ein Loch in die Erde und stoßen plötzlich auf eine in der Tiefe verborgene Wasserader. Einerseits ist das »Glück«, andererseits jedoch kam es nur durch das unermüdliche Training des Autors zustande, das ihm die Kraft gab, weiterzugraben. Ich vermute, dass die Schriftsteller, die zu einer späten Blüte gelangen, alle mehr oder weniger diesen Prozess durchlaufen.
Natürlich gibt es Schriftsteller, die von Anfang bis Ende ihrer Karriere mit einer gewaltigen, unerschöpflichen Begabung gesegnet sind, und die Qualität ihrer Werke lässt niemals nach. Es kann jedoch nur eine Handvoll sein, deren Wasserader nie versiegt, sooft und solange sie sie auch anzapfen. Für die Literatur ist das wirklich ein Glücksfall. Gäbe es diese Riesen nicht, könnte die Literaturgeschichte sich heute nicht mit ihrer Größe schmücken. Ich brauche nur einige von ihnen beim Namen zu nennen: Shakespeare, Balzac, Dickens … Aber Riesen sind nun einmal Riesen; sie sind Ausnahmen und Legenden. Die Mehrzahl der Schriftsteller (mich natürlich inbegriffen), die keine Riesen sein können, müssen ihre fehlende Begabung durch Dinge ersetzen, die ihnen zur Verfügung stehen. Sonst ist es ihnen nicht möglich, über einen längeren Zeitraum Werke von einem gewissen Wert zu schaffen. Die Mittel und Wege, die ein Autor zur Kompensierung seiner Schwächen anwendet, können ein Teil seiner Individualität werden und ihn auszeichnen.
Das meiste über mich selbst und über das Schreiben von Romanen habe ich durch mein tägliches Lauftraining gelernt, auf natürliche, physische, praktische Weise. Wie stark darf ich mich antreiben, ohne mich zu überfordern? Wie viele Pausen brauche ich, ab wann wird die Ruhe zu viel? Wie weit kann ich meine Meinung verfolgen, ab wann wird es engstirnig? Wie tief darf ich in mein Inneres eintauchen, ohne mir der äußeren Welt bewusst zu sein? Bis zu welchem Grad darf ich auf meine Fähigkeiten vertrauen, und wann sollte ich an mir zweifeln? Wäre ich, als ich Schriftsteller wurde, nicht zugleich auch Langstreckenläufer geworden, hätten sich meine Werke sicherlich von meinen jetzigen unterschieden. Aber konkret in welcher Hinsicht unterschieden? Ich weiß es nicht. Aber sie wären sehr anders geworden.
Jedenfalls war es sehr gut, dass ich nie mit dem Laufen aufgehört habe. Denn meine bisherigen Romane gefallen mir selbst auch. Und ich freue mich schon auf den nächsten, den ich hervorbringen werde. Wie wird er aussehen? Für einen unvollkommenen Menschen, einen Schriftsteller mit gewissen Grenzen, der einen unbedeutenden Lebensweg voller Widersprüche geht, ist es eine Leistung, so empfinden zu können. Auch wenn es übertrieben klingt, möchte ich es ein »Wunder« nennen. Und wenn mein tägliches Lauftraining mir zu dieser Leistung verholfen hat, bin ich dem Laufen zutiefst dankbar.
Wer täglich läuft, wird häufig bespöttelt: »Die machen das doch nur, um möglichst lange zu leben.« Ich glaube allerdings, das ist für die wenigsten ein Grund. Die meisten laufen nicht, weil sie länger leben wollen, sondern weil sie ein schöneres Leben führen wollen. Ist es nicht viel angenehmer, zehn Jahre mit klaren Zielen und voller Vitalität zu verbringen, als nur in den Tag hineinzudämmern? Ich glaube, das Laufen verhilft dazu. Sich selbst bis an seine persönlichen Grenzen zu verausgaben ist die Essenz des Laufens und eine Metapher für das Leben überhaupt (und für mich auch für das Schreiben). Ich glaube, viele Läufer würden mir beipflichten.
Ich gehe in ein Fitness-Studio in der Nähe meines Büros in Tokyo, um Dehnübungen zu machen. Dabei nehme ich die Hilfe einer Trainerin in Anspruch. Vom intensiven Laufen sind meine Muskeln steif, und wenn ich sie nicht dehne, kann es mir passieren, dass sie vor dem Lauf streiken. Es ist wichtig, den Körper an seine Grenzen zu bringen, aber wenn man sie überschreitet, hat man verloren.
Die junge Frau, die die Dehnübungen mit mir macht, hat viel Kraft. Die Übungen finde ich sehr – oder eigentlich äußerst –
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