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Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Titel: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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vier Stunden täglich nach einer Woche erschöpft fühlt, wird nie ein längeres Werk zustande bringen können. Ein Schriftsteller braucht – zumindest wenn er einen Roman verfassen will – die Kraft, sechs Monate, ein Jahr, zwei Jahre lang jeden Tag angestrengt zu arbeiten. Ich würde die Konzentration mit einem tiefen Atemzug vergleichen, den man möglichst lange anhält. Ausdauer hingegen ist wie ein ruhiges, langsames Ausatmen. Die Kunst besteht darin, den Atem anzuhalten und gleichzeitig weiterzuatmen. Wer dieses Gleichgewicht zwischen Konzentration und Ausdauer nicht finden kann, dem wird der Beruf des Schriftstellers große Schwierigkeiten bereiten.
    Im Gegensatz zum Talent kann man sich diese Fähigkeiten durch Übung aneignen und sie steigern. Wenn man sich jeden Tag an den Schreibtisch setzt und sein ganzes Bewusstsein auf eine Sache richtet, stellen sie sich nach einer gewissen Zeit ganz von selbst ein. Hierin sehe ich eine große Ähnlichkeit mit dem Muskeltraining, das ich vorhin beschrieben habe. Man muss täglich schreiben und darf nie aussetzen, damit der Organismus die Informationen speichert, die man dazu braucht. Dann wird man seine Grenzen ganz allmählich erweitern. Ohne es zu merken, wird man Stück für Stück die Messlatte höher legen, ähnlich wie bei täglichem Joggen die Muskulatur immer kräftiger wird und man eine Läuferstatur entwickelt. Stets aufs Neue setzt man sich ein Ziel und arbeitet darauf zu. Dazu braucht man natürlich Geduld, aber der Erfolg stellt sich ein.
    Der große Kriminalschriftsteller Raymond Chandler schrieb einmal in einem persönlichen Brief: »Auch wenn ich nichts schreibe, setze ich mich jeden Tag an den Schreibtisch und konzentriere mich.« Ich verstehe seine Absicht dahinter sehr gut. Chandler trainierte auf diese Weise die physische Ausdauer, die ein Berufsschriftsteller benötigt, und stärkte seine Willenskraft. Die tägliche Übung war für ihn unentbehrlich.
    Irgendwann habe auch ich erkannt, dass das Verfassen von Romanen im Grunde körperliche Arbeit ist. Das Schreiben an sich ist vielleicht eine geistige Tätigkeit, aber ein ganzes Buch fertigzustellen ist eher eine physische Anstrengung. Natürlich muss man, wenn man ein Buch schreibt, nichts Schweres heben, nicht schnell laufen oder hoch springen. Die meisten Leute sehen das Schreiben nur als ruhige intellektuelle Tätigkeit, die im stillen Kämmerlein vor sich geht. Wer die Kraft besitzt, eine Kaffeetasse zu heben, kann einen Roman schreiben. Man braucht es jedoch nur einmal auszuprobieren, und die Vorstellung vom Schreiben als geruhsamer, heiterer Tätigkeit wird sich schlagartig ändern. Am Schreibtisch zu sitzen, seine Gedanken zu bündeln wie einen Laserstrahl und auf einen Punkt zu richten, in der Leere eines fernen Horizonts etwas zu entdecken, eine Geschichte zu erfinden, die richtigen Worte zu wählen, eines nach dem anderen, und den Fluss der Geschichte in die richtige Richtung zu lenken erfordert weitaus größere Kraft, als gemeinhin angenommen wird. Man bewegt sich vielleicht nicht, aber im Inneren geht eine zermürbende Dynamik vor sich. Jeder benutzt beim Denken seinen Verstand. Aber ein Schriftsteller schlüpft in eine Geschichte wie in eine zweite Haut und lebt mit seinem ganzen Wesen darin. Die Arbeit eines Schriftstellers verlangt von ihm, dass er all seine physischen Fähigkeiten einsetzt – sich häufig sogar überanstrengt.
    Begnadete Autoren können diesen Prozess unbewusst, ja bisweilen fast automatisch durchlaufen. Besonders wenn sie jung sind, bereitet es solchen Menschen kaum Schwierigkeiten, einen Roman zu schreiben, und sie nehmen jede Hürde mit Leichtigkeit. In der Jugend verfügt der Körper über viel natürliche Vitalität. Konzentration und Ausdauer stellen sich nach Bedarf und ohne große Anstrengung ein. Jung und begabt zu sein ist, als hätte man Flügel.
    In den meisten Fällen büßt dieser Elan mit schwindender Jugend seine natürliche Lebhaftigkeit und Frische ein. Von einem gewissen Alter an sind Dinge, die dem Autor vormals zufielen, nicht mehr so leicht zu haben, ebenso wie die Schnelligkeit eines Werfers nachlässt. Natürlich gleichen einige, wenn sie reifer werden, die Abnahme ihrer natürlichen Fähigkeiten durch größere Erfahrung aus. So kann aus einem schnellen Werfer ein raffinierter Werfer werden, der sich auf Changeups verlegt. Aber auch das hat natürlich seine Grenzen, und drohende Verluste werfen ihre Schatten voraus.
    Schriftsteller

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