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Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Titel: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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versucht das Bewusstsein zu leugnen. Aber ich musste mich zumindest ein wenig in eine anorganische Position treiben. Instinktiv erkannte ich dies als einzigen Weg, den Lauf bis zum Ziel zu überstehen.
    »Ich bin kein Mensch. Ich bin eine Maschine. Deshalb brauche ich nichts zu fühlen. Mich nur vorwärtszubewegen.«
    Gebetsmühlenartig wiederholte ich diese Worte in meinem Kopf, unzählige Male. Im wahrsten Sinne des Wortes mechanisch. Ich zwang mich, meine Wahrnehmung der Welt auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Ich sah nur den Erdboden drei Meter vor mir, sonst nichts. Meine Welt bestand nur noch aus den drei Metern vor mir. Darüber hinaus brauchte ich nicht zu denken. Der Himmel, der Wind, das Gras, die Kühe, die es fraßen, die Zuschauer, ihre Rufe, der See, Romane, die Wirklichkeit, die Vergangenheit, Erinnerungen, all das spielte keine Rolle mehr für mich. Nur die nächsten drei Meter vor mir, auf die ich meine Füße setzte, zählten für mich. Sie waren der winzige Sinn des Lebens für den Menschen – falsch, die Maschine –, die ich war.
    Alle fünf Kilometer machte ich Halt an einer Wasserstation und trank. Jedes Mal machte ich emsig ein paar Dehnübungen. Meine Muskeln waren jetzt so hart wie eine Woche altes Mensabrot. Sie fühlten sich nicht an, als wären es meine. An einer Station wurden Salzpflaumen angeboten, und ich aß eine. Ich hätte nie gedacht, dass eine Salzpflaume so gut schmecken könnte. Das Salz und die Säure breiteten sich in meinem Mund aus und durchdrangen langsam meinen ganzen Körper.
    Statt mich mit Gewalt zum Laufen zu zwingen, wäre es vielleicht vernünftiger gewesen, wenn ich gegangen wäre. Viele taten das. Beim Gehen erholen sich die Beine. Aber ich ging nicht ein einziges Mal. Ich pausierte öfter, um zu dehnen, aber ich ging nicht. Schließlich nahm ich nicht an einem Wettgehen teil. Ich war hier, um zu laufen. Deshalb und nur deshalb war ich eigens mit dem Flugzeug nach Nordjapan gereist. Wie sehr meine Laufgeschwindigkeit auch nachließ, ich würde nicht gehen. Das war meine Regel. Aber sobald ich eine meiner Regeln auch nur ein einziges Mal breche, verstoße ich danach gegen immer mehr davon. Und dann würde es sicher sehr schwierig, diesen Lauf zu beenden.
    Während ich das alles ertrug und weiterlief, erlebte ich in der Gegend von Kilometer 75 einen Durchbruch. So fühlte es sich an. Ein besserer Ausdruck fällt mir nicht ein. Es war, als wäre ich durch eine Mauer gegangen. Wann genau sich dieses Gefühl einstellte, weiß ich nicht mehr. Plötzlich merkte ich, dass ich auf der anderen Seite war. Ich war überzeugt, durch etwas hindurchgekommen zu sein. Ich weiß nicht, welche Logik, welcher Vorgang oder welche Methode dahintersteckte, aber ich war überzeugt, es geschafft zu haben.
    Danach gab es keine Notwendigkeit mehr, an irgendetwas zu denken. Besser gesagt, ich musste mich nicht mehr bewusst anstrengen, an nichts zu denken. Ich brauchte mich nur noch dem Fluss zu überlassen und würde wie von selbst das Ziel erreichen. Eine bestimmte Kraft würde mich, wenn ich mich ihr überließ, ganz natürlich vorwärtstragen.
    So lange zu laufen ist natürlich eine immense körperliche Anstrengung. Von diesem einen Punkt an war die Erschöpfung jedoch kein so großes Problem mehr für mich. Ich hatte sie als ganz natürlichen »Zustand« in mich aufgenommen. Auch der vormals tobende Revolutionsrat meiner Muskeln schien sich mit dem gegenwärtigen Zustand abgefunden zu haben und protestierte nicht länger. Keiner schlug mehr auf den Tisch, und keiner warf mit Gläsern. Sie hatten meine Erschöpfung als historisch unausweichlich und als Ergebnis der Revolution anerkannt. Ich hatte mich in einen Automaten verwandelt, der regelmäßig die Arme vor und zurück schwang und die Beine Schritt für Schritt vorwärtsbewegte. Ohne zu denken. Ohne zu fühlen. Im Nu war fast aller Schmerz verschwunden. Oder ich hatte ihn irgendwohin geschoben, wo man ihn nicht sah, wie irgendein hässliches Möbelstück, das man einfach nicht loswird.
    Auf diese Weise überholte ich nach meinem »Durchbruch« viele Läufer. Kurz nachdem ich den Kontrollpunkt bei Kilometer 75 hinter mir gelassen hatte (an dem man in acht Stunden und fünfundvierzig Minuten vorbei sein muss oder man wird disqualifiziert), wurden im Gegensatz zu mir viele Läufer langsamer. Einige stellten sogar das Laufen ein und gingen. Von dieser Stelle bis zur Ziellinie überholte ich etwa zweihundert Personen. Zumindest zählte

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