Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
war, als würde sich ein fester Knoten in mir langsam lösen, ein Knoten, den ich bis dahin nicht einmal bemerkt hatte.
***
Unmittelbar nach dem Lauf am Saroma-See schaffte ich es die Treppe hinunter nur, indem ich mich am Geländer festklammerte. Meine Beine zitterten und konnten meinen Körper kaum noch tragen. Nach einigen Tagen hatten sie sich jedoch erholt, und ich konnte auch Treppen wieder normal gehen. Es ist klar, dass meine Beine sich über die Jahre an das Laufen langer Strecken angepasst haben. Das Problem waren, wie schon gesagt, meine Arme. Ich hatte sie zu heftig geschwungen, um der Erschöpfung meiner Beine entgegenzuwirken. Am Tag nach dem Lauf begann mein rechtes Handgelenk zu schmerzen. Es war rot und stark geschwollen. Ich war schon so oft Marathon gelaufen, aber zum ersten Mal waren es meine Hände und nicht die Beine, die gelitten hatten.
Dennoch war von den verschiedenen Erfahrungen, die mir der Ultramarathon beschert hatte, die mentale von größerer Bedeutung als die körperliche. Was mir blieb, war eine Art innerer Niedergeschlagenheit. Unmerklich legte sich ein dünner Film um mich, etwas, das ich als »Runner’s Blue« bezeichnen würde (obwohl es meinem Gefühl nach eher einem trüben Weiß glich). Anscheinend konnte ich nach dem Ultramarathon nicht mehr die natürliche Begeisterung aufbringen, die ich früher für das Laufen gehabt hatte. Selbstverständlich war ich erschöpft, aber daran allein lag es nicht. Die Lust zu laufen, die ich früher verspürt hatte, wollte nicht mehr aufkommen. Warum das so war, weiß ich nicht, aber es war nicht zu leugnen. Etwas war mit mir geschehen. Meine täglichen Läufe und auch ihre Distanzen verringerten sich.
Auch danach nahm ich weiter regelmäßig jedes Jahr an einem Marathon teil. Ich muss nicht erwähnen, dass man an einen Marathon nicht halbherzig herangehen kann. Deshalb trainierte ich ernsthaft und kam auch immer ganz anständig über die Runden, aber über »ganz anständig« ging es eben nie hinaus. Tief in meinem Inneren hatte sich etwas mir bisher Unbekanntes festgesetzt. Nicht nur meine Lust zu laufen hatte abgenommen; mit diesem Verlust war zugleich etwas Neues in mir entstanden. Und wahrscheinlich hatte dieser Vorgang des Aus- und Einströmens diesen ungewohnten »Runner’s Blue« ausgelöst.
Was war das Neue, das in mir entstanden war? Ich kann es nicht genau beschreiben, aber wenn ich es »Resignation« nenne, komme ich der Sache recht nahe. Durch die Vollendung der 100 Kilometer schien ich, etwas übertrieben ausgedrückt, ein »anderes Reich« betreten zu haben. Nachdem ab Kilometer 75 meine Erschöpfung plötzlich verschwunden war, war mein Bewusstsein in einen philosophischen oder sogar religiösen Zustand der Leere eingetreten. Dadurch hat sich vielleicht die Neigung zur Selbstbesinnung in mir verstärkt, und meine Einstellung zum Laufen änderte sich. Das unkomplizierte, positive Gefühl von früher, als ich einfach nur laufen wollte, egal wie, war verschwunden.
Oder vielleicht messe ich der Sache auch zu viel Gewicht bei. Vielleicht hatte ich mich bloß müde gelaufen, weil ich mir die ganzen Jahre über zu viele lange Strecken zugemutet hatte. Immerhin war ich Ende vierzig und stieß allmählich an meine physischen Grenzen, was in diesem Alter nicht zu vermeiden ist. Vielleicht bekam ich nur zu spüren, dass ich meinen körperlichen Gipfel überschritten hatte. Oder ich machte (ohne es zu wissen) eine seelische Krise durch, so etwas wie die Wechseljahre des Mannes. Oder alle diese Faktoren hatten sich in mir zu einem unverständlichen Cocktail vermischt? Für mich als den Betroffenen war es schwierig, diese Dinge objektiv einzuschätzen. Was es auch war, ich gab ihm den Namen » Runner’s Blue« .
Dass ich den Ultramarathon geschafft hatte, freute mich natürlich sehr und verlieh mir im Grunde Selbstbewusstsein. Noch heute bin ich froh, ihn gelaufen zu sein. Dennoch gab es diese »Nachwirkungen«. Lange Zeit hatte ich ein läuferisches Tief (nicht dass ich eine glänzende Vergangenheit gehabt hätte, aber trotzdem). Jedes Mal, wenn ich einen Marathon lief, wurde ich schlechter. Training und Wettläufe bedeuteten allmählich für mich mehr oder weniger nur noch eine Formalität. Sie ließen mein Herz nicht mehr höher schlagen wie früher. Auch mein Adrenalinausstoß während der Läufe schien sich zu verringern. Daher zog ich mein Interesse nun vom Marathon ab und wandte mich dem Triathlon zu. Ich ging in die Halle
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