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Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Titel: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ich so viele. Nur ein- oder zweimal zog jemand von hinten an mir vorbei. Ich konnte die Läufer zählen, weil ich sonst nichts zu tun hatte. Ich hatte meine tiefe Erschöpfung vollständig akzeptiert, aber dennoch war ich in der Lage, standhaft weiterzulaufen. Für mich gab es nichts mehr auf der Welt, das ich mir noch wünschte.
    Da ich auf Autopilot geschaltet hatte, wäre ich vielleicht, wenn man mir das Kommando dazu gegeben hätte, über die 100 Kilometer hinausgelaufen. Es ist seltsam, aber am Ende – ohne den körperlichen Schmerz – wusste ich kaum noch, wer ich war oder was ich da tat. Das muss doch eigentlich ein sehr sonderbares Gefühl gewesen sein, aber ich konnte nicht einmal mehr das Sonderbare spüren. An diesem Punkt gelangte der Akt des Laufens fast in einen metaphysischen Bereich. Am Anfang stand die Tat, und ich bin das Wesen, das sie ausführt. Ich laufe, also bin ich.
    Am Schluss jedes Marathons will ich nur noch möglichst rasch das Ziel erreichen und den Lauf beenden. Mehr denke und fühle ich nicht. Doch damals dachte ich gar nicht daran. Das Ende des Laufes war nur eine Markierung ohne besondere Bedeutung. Genauso ist es mit dem Leben. Nur weil es endlich ist, heißt das nicht, dass es auch eine besondere Bedeutung hat. Ein Endpunkt wird nur als zeitliche Markierung gesetzt oder dient indirekt als Metapher für den vergänglichen Charakter des Daseins. Das ist ziemlich philosophisch. Obwohl ich damals nicht im Geringsten an Philosophie dachte. Es war nur so ein umfassendes Gefühl, das ich nicht in Worte fasste, sondern lediglich als körperliche Empfindung spürte. Es wurde besonders stark, als ich am letzten Abschnitt der Strecke angekommen war, der durch den Wildblumenpark auf der langen Halbinsel führte. Meine Art zu laufen glich nun einem Zustand der Meditation. Die Küstenlandschaft dort ist wunderschön, und man kann das Ochotskische Meer riechen. Es wurde allmählich Abend (der Lauf hatte am frühen Morgen begonnen), und die Luft war von besonderer Klarheit. Das dichte frühsommerliche Gras duftete. Es waren auch ein paar Füchse in einem Feld zu sehen, die neugierig die Läufer beobachteten. Dichte, bedeutungsschwangere Wolken wie auf dem Bild eines englischen Landschaftsmalers aus dem 19. Jahrhundert bedeckten den Himmel. Es war vollkommen windstill. Viele Läufer um mich herum trabten nun schweigend auf das Ziel zu. In ihrer Mitte zu sein hüllte mich in ein stilles Glücksgefühl. Einatmen, ausatmen. Mein Atem klang überhaupt nicht keuchend. Die Luft zog ganz leicht in mich hinein und wieder hinaus. Mein Herz schlug ruhig, in regelmäßigem Rhythmus. Meine Lungen blähten sich wie der Blasebalg eines Schmieds und pumpten frischen Sauerstoff in meinen Körper. Ich konnte diese Bewegungen vor mir sehen und ihre Geräusche hören. Alles funktionierte reibungslos. Die Zuschauer am Straßenrand feuerten uns an: »Haltet durch! Gleich habt ihr es geschafft!« Ihre Stimmen gingen als transparente Brise durch meinen Körper hindurch. Ich konnte spüren, wie sie durch mich hindurch auf die andere Seite wehten.
    Ich war ich und doch nicht ich. Dieses Gefühl hatte ich. Es war eine ganz stille, leise Stimmung. Das Bewusstsein ist gar nicht so wichtig. Dachte ich. Aber da ich Schriftsteller bin, ist mein Bewusstsein natürlich entscheidend für meine Arbeit. Wäre es nicht mehr vorhanden, würde ich nie im Leben mehr eine meiner Geschichten schreiben. Dennoch empfand ich es damals nicht so. Das Bewusstsein ist wirklich keine so großartige Angelegenheit.
    Dennoch war ich überglücklich, als ich in Joro-machi die Ziellinie überschritt. Natürlich bin ich immer froh, wenn ich bei einem Langstreckenlauf das Ziel erreiche, aber diesmal wurde es mir wirklich warm ums Herz. Ich reckte die rechte Faust in die Luft. Es war 16 Uhr 42. Seit dem Start waren 11 Stunden und 42 Minuten vergangen.
    Zum ersten Mal nach einem langen Tag setzte ich mich endlich auf den Boden, wischte mir mit einem Handtuch den Schweiß ab, trank Wasser, ohne richtig zu wissen, was ich tat, löste meine Schnürsenkel und dehnte behutsam die Fußgelenke. Die Sonne ging bereits unter. Ich empfand nicht gerade etwas so Großartiges wie Stolz, aber endlich erhob sich in mir das Gefühl, eine Leistung vollbracht zu haben. Ich empfand Freude und Erleichterung darüber, dass ich dieses Risiko eingegangen war und die Kraft gehabt hatte, durchzuhalten und es zu meistern. Vermutlich überwog in diesem Moment die Erleichterung. Mir

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