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Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Titel: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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auf dem Rasen und sprühte meine Waden mit Entzündungshemmer ein. Dann wusch ich mir noch das Gesicht, säuberte mich von Schweiß und Schmutz und ging auf die Toilette.
    Ich machte dort etwa zehn Minuten Pause, setzte mich aber in der ganzen Zeit kein einziges Mal hin. Wenn ich erst einmal säße, würde es mir sehr schwer fallen, aufzustehen und weiterzulaufen, dessen war ich mir sicher. Deshalb hütete ich mich davor.
    »Alles in Ordnung?«, wurde ich gefragt.
    »Alles klar«, erwiderte ich nur, zu mehr reichte es nicht.
    Nachdem ich getrunken und Dehnübungen gemacht hatte, machte ich mich wieder auf den Weg. Die restlichen 45 Kilometer bis zum Ziel würde ich keine Pause machen, nur laufen. Doch als ich wieder anfing, merkte ich, dass ich nicht in guter Verfassung war. Meine Beinmuskulatur hatte sich verkrampft und fühlte sich an wie harter alter Gummi. Ich hatte noch jede Menge Kondition, und mein Atem ging regelmäßig, aber meine Beine wollten nicht mehr auf mich hören. Ich hatte das Gefühl, noch ewig rennen zu können, aber sie schienen anderer Auffassung zu sein.
    Sie zu motivieren war hoffnungslos. Also gab ich es auf und wandte mich meinem Oberkörper zu. Ich schwenkte die Arme und versetzte ihn dadurch in Schwung. Dieser Impuls übertrug sich auf den unteren Teil meines Körpers, und ich nutzte seine Kraft, um meine beiden Beine voranzutreiben (allerdings hatte ich nach dem Lauf geschwollene Handgelenke). Natürlich kommt man auf diese Weise nur ziemlich langsam voran. Meine Geschwindigkeit unterschied sich nicht besonders von der bei schnellem Gehen. Aber dabei begannen meine Beinmuskeln sich ganz allmählich wieder normal zu bewegen, als ob sie sich erinnerten oder ihre Pflicht erkannten, und nach einer Weile konnte ich fast wieder so laufen wie sonst. Zum Glück.
    Doch obwohl meine Beine wieder funktionierten, war die Strecke von Kilometer 55 bis 75 unglaublich qualvoll. Ich fühlte mich wie ein Stück Rind, das durch den Fleischwolf gedreht wird. Ich hatte den Willen voranzukommen, aber mein Körper gehorchte mir nicht mehr. So muss sich ein Auto fühlen, wenn es mit angezogener Handbremse bergauf fahren soll. Mein Körper schien kurz davor zu sein auseinanderzufallen. Kein Öl mehr, die Schrauben hatten sich gelockert, und die Zahnräder griffen nicht mehr richtig ineinander. Alles knirschte und quietschte. Ich wurde rasch langsamer, und ein Läufer nach dem anderen zog an mir vorbei. Einschließlich einer zierlichen etwa siebzigjährigen Dame. »Durchhalten!«, rief sie mir zu. Heiliger Strohsack, wie sollte das noch werden? Ich hatte noch vierzig Kilometer vor mir.
    Während ich lief, fingen der Reihe nach verschiedene Teile meines Körpers an zu schmerzen. Zuerst tat mein rechter Oberschenkel höllisch weh, dann zog der Schmerz ins rechte Knie, dann in den linken Oberschenkel und so weiter … Nacheinander erhoben sich alle meine Körperteile gegen mich und beklagten sich laut über ihre jeweiligen Schmerzen. Sie schrien, sie zeterten, protestierten, sie jammerten und drohten mit Streik. Auch für sie war ein 100-Kilometer-Lauf eine unbekannte Erfahrung, und jeder hatte eine andere Ausrede. Was ich gut verstand. Aber jetzt gab es nur eins, durchhalten und ruhig weiterlaufen. Wie Danton oder Robespierre den unzufriedenen und rebellischen radikalen Revolutionsrat zu bändigen und zu überzeugen versuchten, bemühte ich mich, meine einzelnen Körperteile zur Vernunft zu bringen. Ich ermutigte, flehte, schmeichelte, drohte, schimpfte und lobte. Nur noch ein bisschen. Lasst mich nicht im Stich, haltet durch. Aber wenn man darüber nachdenkt – und das tat ich –, wurden Danton und Robespierre am Ende die Köpfe abgeschlagen.
    Jedenfalls schleppte ich mich mit zusammengebissenen Zähnen diese qualvollen 20 Kilometer vorwärts. Ich wendete jedes nur erdenkliche Mittel an.
    »Ich bin kein Mensch, nur eine Maschine. Deshalb fühle ich überhaupt nichts. Bewege mich nur vorwärts«, sagte ich mir beständig.
    Indem ich an nichts anderes mehr dachte, schaffte ich es. Hätte ich daran gedacht, dass ich ein Mensch aus Fleisch und Blut bin, wäre ich wahrscheinlich vor Schmerz und Qual zusammengebrochen. Natürlich gab es ein Wesen, das ich war, und damit auch ein Bewusstsein meiner selbst. Doch in dieser Lage zwang ich mich zu denken, mein Körper und mein Bewusstsein seien nichts mehr als »nützliche Formen«. Das ist ein seltsamer Gedanke und ein seltsames Gefühl. Etwas, das ein Bewusstsein hat,

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