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Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Titel: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Bücher auf Englisch, auch wenn das Sprechen definitiv nicht meine Stärke ist.) Das versetzt mich jedoch in eine sehr bequeme Lage. Ich sage mir:Was kann man schon tun, es ist ja eine Fremdsprache. Das war eine sehr interessante Entdeckung für mich. Natürlich brauche ich eine Menge Zeit zur Vorbereitung. Ich muss einen englischen Vortrag von dreißig oder vierzig Minuten auswendig lernen. Wenn man nur vom Manuskript abliest, kann man kein lebendiges Gefühl übermitteln. Ich muss Worte wählen, deren Klang die Leute leicht verstehen, und ich muss öfter lächeln, damit das Publikum sich entspannt. Ich muss meinen Zuhörern vermitteln, welch ein Mensch ich bin, und sie zumindest für kurze Zeit auf meine Seite ziehen, wenn ich will, dass sie mir zuhören. Dazu muss ich meine Rede immer wieder üben. Das nimmt sehr viel Zeit in Anspruch. Aber jede neue Herausforderung hat auch ihre Belohnungen.
    Laufen ist genau die richtige Tätigkeit, um eine Rede zu lernen. Während ich fast unbewusst meine Beine bewege, reihe ich im Kopf die Wörter aneinander. Ich messe den Rhythmus der Sätze und prüfe ihren Klang. Wenn ich beim Laufen mit meinen Gedanken woanders bin, lege ich keine übermäßige Geschwindigkeit vor und kann lange laufen. Beim Üben einer Rede ziehe ich mitunter Gesichter und gestikuliere, sodass die Leute, die mir entgegenkommen, mich verwundert anschauen.
    Heute sah ich eine dicke kanadische Wildgans tot am Flussufer liegen. Außerdem entdeckte ich ein totes Eichhörnchen unter einem Baum. Beide wirkten, als würden sie fest schlafen, aber sie waren wirklich tot. Ihr Ausdruck war ruhig, als hätten sie das Ende ihres Lebens akzeptiert, als wären sie endlich befreit. Am Bootshaus begegnete ich einem Obdachlosen, der mehrere Schichten schmutziger Kleider trug. Er schob einen Einkaufswagen vor sich her und sang mit lauter Stimme »America the Beautiful«. Ob sein Gesang von Herzen kam oder ob er es sarkastisch meinte, konnte ich nicht unterscheiden.
    Jedenfalls zeigt der Kalender nun Oktober. Im Nu wird auch dieser Monat vorüber sein. Die kalte Jahreszeit steht vor der Tür.

6
    23. JUNI 1995
SAROMA-SEE, HOKKAIDO
    KEINER SCHLUG MEHR AUF DEN TISCH, UND KEINER WARF MIT GLÄSERN
    Sind Sie schon einmal 100 Kilometer an einem Tag gelaufen? Die überwiegende Mehrzahl der Menschen auf der Welt (die noch bei Sinnen sind, sollte ich vielleicht hinzufügen) macht diese Erfahrung wohl nicht. Ein gesunder Normalbürger tut so etwas Mutwilliges nicht. Ich habe es einmal getan. Der 100-Kilometer-Lauf dauerte vom Morgen bis zum Abend. Die physische Anstrengung war natürlich enorm, und noch eine ganze Weile danach war mir die Lust am Laufen vergangen. Ich glaube, es war das erste und das letzte Mal für mich, aber wer kennt schon die Zukunft? Vielleicht habe ich aus der Erfahrung nichts gelernt, und der Tag wird kommen, an dem ich mich erneut der Herausforderung eines Ultramarathons stelle. Was der nächste Tag bringt, weiß man erst, wenn er angebrochen ist.
    Im Nachhinein ist mir klar, dass dieser Lauf große Bedeutung für mich hatte. Welchen allgemeinen Sinn es haben könnte, alleine 100 Kilometer durch die Gegend zu laufen, weiß ich nicht. Aber als »Aktion, die stark vom Alltäglichen abweicht, aber prinzipiell dem rechten Wege nicht zuwiderläuft«, könnte es dem individuellen Bewusstsein durchaus zu einer besonderen Erkenntnis verhelfen. Es könnte das eigene Selbstverständnis um einige neue Elemente erweitern. Vielleicht folgt daraus eine Veränderung der eigenen Lebensanschauung, ihrer Färbung und ihrer Form. Mehr oder weniger, zum Besseren oder zum Schlechteren. Mich hat dieser Lauf jedenfalls verändert.
    Das Folgende stützt sich auf einen kurzen Aufsatz, den ich einige Tage nach dem Lauf schrieb, »um nicht alles wieder zu vergessen«. Als ich ihn nach zehn Jahren wiederlas, kamen die Gedanken und Gefühle von damals mir sehr lebhaft und frisch in Erinnerung. Vielleicht können Sie bei der Lektüre nachvollziehen, was mir von diesem grausamen Lauf geblieben ist – das Erfreuliche und das weniger Erfreuliche. Aber womöglich sagen Sie ja auch nur: »So was versteh ich nicht.«
    ***
    Der Ultramarathon findet jedes Jahr am Saroma-See auf Hokkaido statt, wo es keine Regenzeit gibt und das Wetter im Frühsommer schön ist, obwohl im hohen Norden, wo der See liegt, der Sommer um diese Zeit noch weit entfernt ist. Früh am Morgen, wenn der Lauf beginnt, ist es noch eisig kalt, und man muss sich dick einpacken.

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