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Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Titel: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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um einige Stunden später die Ziellinie am Tavern Gate im Central Park zu erreichen.
    Welche Zeit ich gelaufen bin? Ehrlich gesagt, war sie nicht so großartig. Zumindest nicht so, wie ich es mir insgeheim erträumt hatte. Eigentlich hatte ich gehofft, einen Satz wie »Dank meines unermüdlichen Trainings bin ich beim New York Marathon eine fantastische Zeit gelaufen und war sehr bewegt, als ich ins Ziel ging« ans Ende dieses Buches setzen zu können und, begleitet von der Filmmusik aus Rocky , lässig in einen prachtvollen Sonnenuntergang davonzuschlendern. Bis ich den Marathon wirklich lief, dachte ich tatsächlich noch, es könnte so werden, und freute mich auf diesen Ausgang. Das war Plan A. Ein toller Plan.
    Aber im wirklichen Leben läuft eben nicht alles so glatt. In gewissen Momenten unseres Lebens, wenn wirklich klare Entscheidungen gebraucht werden, bringt der Bote, der an die Tür klopft, höchstwahrscheinlich schlechte Nachrichten. Ich will nicht sagen »immer«, aber erfahrungsgemäß überwiegen die düsteren Mitteilungen. Der Bote legt die Hand an die Mütze und macht ein bedauerndes Gesicht, was jedoch nicht dazu beiträgt, den Inhalt seiner Nachricht zum Besseren zu wenden. Es ist natürlich nicht die Schuld des Boten. Es würde nichts nützen, ihn am Kragen zu packen und zu schütteln. Der arme Bote führt nur pflichtgemäß den Auftrag aus, der ihm von oben erteilt wurde. Und wer hat ihm den Auftrag erteilt? Genau, die gute alte Realität.
    In diesem Fall brauchen wir einen Plan B.
    Vor dem Lauf hielt ich mich für gut in Form. Ich war auch sehr ausgeruht, und das komische Gefühl in meinem Knie hatte sich gegeben. In den Beinen, besonders in den Waden, spürte ich noch einen Anflug von Erschöpfung, aber sie war nicht so stark, dass ich mir Sorgen hätte machen müssen (dachte ich). Mein Trainingsprogramm war reibungslos vonstatten gegangen, besser als vor jedem Lauf zuvor. Daher hegte ich die Hoffnung (oder vertraute sogar darauf), dass ich meine beste Zeit seit Jahren laufen würde. Ich brauchte meine angehäuften Jetons nur noch gegen Bargeld einzulösen.
    An der Startlinie folgte ich dem Schrittmacher mit dem Schild 3 Stunden 45 Minuten. Ich glaubte fest daran, dieses Ziel erreichen zu können. Das war vermutlich mein Fehler. Im Nachhinein betrachtet, hätte ich lieber bis etwa Kilometer 30 dem 3-Stunden-55-Minuten-Schrittmacher folgen und erst schneller werden sollen, wenn ich von selbst das Gefühl bekam, besser zu sein. Ich hätte wohl eine vernünftigere Einstellung gebraucht. Aber zu dem Zeitpunkt trieb mich etwas anderes an. »Nun hast du in dieser Hitze so hart trainiert. Welchen Sinn hätte das gehabt, wenn du diese Zeit nicht schaffst? Du bist doch ein Mann! Also los!«, flüsterte mir eine Stimme ins Ohr. Wie die Stimmen von Katze und Fuchs, die Pinocchio auf seinem Schulweg verführen. Bis vor nicht allzu langer Zeit waren 3 Stunden 45 Minuten für mich eine ganz normale Zeit.
    Bis Kilometer 25 konnte ich dem Schrittmacher noch folgen, danach wurde es unmöglich. Das Eingeständnis fiel mir schwer, aber allmählich ließen meine Beine nach und mit ihnen mein Tempo. Der 3-Stunden-50-Minuten-Schrittmacher zog an mir vorbei, dann der mit 3 Stunden 55. Es war die schlimmstmögliche Wendung. Auf keinen Fall jedoch durfte ich den 4-Stunden-Schrittmacher an mir vorbeiziehen lassen. Nachdem ich die Triborough Bridge überquert hatte und den breiten, geraden Weg von Uptown zum Central Park in Angriff nahm, fühlte ich mich etwas besser und hatte die schwache Hoffnung, »die Sache nun irgendwie wieder ins Lot zu bringen«, doch sie war nur von kurzer Dauer, denn kaum lief ich in den Park und auf die lange Steigung zu, bekam ich einen Krampf in der rechten Wade. Er war nicht so schlimm, dass ich hätte anhalten müssen, aber wegen des Schmerzes konnte ich fast nur im Schritttempo laufen. Die Zuschauer feuerten mich an: »Go! Go!« Nichts lieber als das, aber meine Beine machten nicht mehr mit.
    Auf diese Weise schaffte ich auch die vier Stunden nicht ganz. Natürlich habe ich den Lauf beendet und damit meine ununterbrochene Serie von alljährlichen Marathonläufen (inzwischen sind es vierundzwanzig) fortgesetzt. Ich habe mein Minimum erreicht. Aber nach all meinen Plänen und dem gründlichen Training blieb eine gewisse Unzufriedenheit zurück. Es fühlte sich an, als wäre der Rest einer dunklen Wolke in meinen Magen eingedrungen. Sosehr ich auch darüber nachdachte, ich wurde nicht fertig

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