Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
damit. Ich hatte so hart trainiert, wie konnte ich da einen Krampf bekommen? Ich habe nicht die Absicht zu fordern, dass jede Anstrengung gerecht belohnt werden sollte, aber wenn es so etwas wie einen Gott im Himmel gibt, könnte er mir doch wenigstens ein winziges Zeichen geben. Wäre so ein bisschen Güte denn zu viel verlangt?
Etwa ein halbes Jahr später im April 2006 lief ich den Boston Marathon. Eigentlich ist es mein Prinzip, nur einmal im Jahr einen Marathon zu laufen, aber da ich mein Ergebnis in New York noch immer kaum fassen konnte, wollte ich es noch einmal versuchen. Allerdings reduzierte ich diesmal meinen Trainingsaufwand ganz gezielt; schließlich hatte der mir in New York auch nicht das erhoffte Ergebnis gebracht. Womöglich hatte ich sogar zu viel trainiert. Daher erstellte ich nun kein spezielles Trainingsprogramm, sondern lief einfach jeden Tag ein bisschen mehr als sonst, grübelte nicht und ließ den Dingen ihren Lauf. Ich wollte die Sache diesmal lässig angehen: »Was ist schon ein Marathon?«, sagte ich mir. Ich beschloss einfach abzuwarten, was dabei herauskäme.
Also lief ich den Boston Marathon. Zum siebten Mal, darum hatte ich die Strecke ziemlich im Kopf. Ich wusste die Zahl der Steigungen und kannte jede Kurve auswendig. Ich wusste, wie ich laufen musste – was natürlich keinesfalls hieß, dass ich auch gut laufen würde.
Und was war nun das Ergebnis?
Meine Zeit unterschied sich nicht wesentlich von der in New York. Nach meinen Erfahrungen dort beherrschte ich mich, so gut es ging, in der ersten Hälfte. Ich hielt ein bestimmtes Tempo ein und haushaltete mit meinen Kräften. Unterwegs betrachtete ich entspannt die Umgebung und wartete auf den Punkt, an dem ich das Gefühl hätte, das Tempo steigern zu können. Allerdings kam dieser Punkt nie. Von Kilometer 30 bis 35 – die Stelle, an der man die kritische Steigung (Heart Break Hill) überwindet – ging es mir hervorragend. Nicht das geringste Problem. Freunde und Bekannte, die am Heart Break Hill auf mich warteten, um mich anzufeuern, sagten mir später, ich hätte ausgesprochen munter gewirkt. Lächelnd und winkend lief ich den Hügel hinauf. Ich war mir sicher, dass ich, falls es so weiterginge, mein Tempo steigern und eine gute Zeit laufen würde. Aber nachdem ich am Cleveland Circle vorbei war und das Zentrum von Boston erreichte, wurden mir auf einmal die Beine schwer. Rasch wuchs meine Erschöpfung. Ich bekam keine Krämpfe, aber die letzten Kilometer nach der Boston University Bridge bis zur Ziellinie schaffte ich nur mit Ach und Krach. Es war mir unmöglich zu beschleunigen.
Natürlich hielt ich bis zum Schluss durch. Unter leicht bewölktem Himmel lief ich die ganzen 42,195 km ohne anzuhalten und ging ohne Aufsehen durch die Ziellinie, die sich wie üblich am Prudential Center befand. In eine silberne Thermodecke gewickelt, damit ich nicht fror, bekam ich von einer der ehrenamtlichen Helferinnen eine Medaille überreicht. Eine Woge der Erleichterung schwappte über mich hinweg, Erleichterung, weil ich nicht mehr rennen musste. Es ist immer ein wunderbares Gefühl, einen Marathon zu beenden, eine großartige Leistung, aber ich war wieder nicht zufrieden mit meiner Zeit. Für gewöhnlich freue ich mich nach einem Lauf schon immer auf ein kaltes Sam Adams, aber nicht einmal darauf hatte ich Lust. Es war ein Gefühl, als hätte die Erschöpfung sich auf alle meine Organe ausgebreitet.
»Was war denn los?«, fragte meine Frau, die an der Ziellinie auf mich gewartet hatte, verwundert. »Du siehst gar nicht so mitgenommen aus. Und du hast doch auch trainiert.«
Ich wusste auch nicht, was los war. Vielleicht wurde ich eben einfach nur älter. Oder es waren andere Gründe. Vielleicht hatte ich etwas Wichtiges übersehen? Jedenfalls muss es im Moment bei Spekulationen bleiben. Es ist, als wäre ein kleiner Wasserlauf geräuschlos in der Wüste versickert.
Aber eins kann ich zuversichtlich behaupten: Ich werde mich nicht unterkriegen lassen und weiter unermüdlich Marathon laufen, bis ich wieder sagen kann: »Diesmal bist du gut gelaufen.« Solange mein Körper es mir erlaubt, werde ich unverdrossen weiterlaufen, auch wenn ich schon altersschwach bin und die Leute mich ermahnen: »Murakami-san, jetzt lassen Sie das mal lieber. Sie sind zu alt!« Selbst wenn meine Zeiten immer schlechter werden, werde ich mich noch genauso – oder vielleicht sogar noch mehr – anstrengen, um immer wieder mein Ziel zu erreichen: die
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