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Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Titel: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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schauen.
    Radtraining ohne Hilfe ist, ehrlich gesagt, ziemlich hart. Da ich, als ich damit anfing, rechts kaum von links unterscheiden konnte, bat ich einen Bekannten, der sich sehr gut im Radrennen auskennt, mich zu trainieren. An Feiertagen luden wir unsere Räder in einen Kombi und fuhren an die Pier nach Oi. Wenn dort keine Lastwagen verkehren, ist die breite Straße, die an all den Lagerhäusern vorbeiführt, eine ideale Radrennbahn. Eine Menge Radfahrer kommen hier zusammen. Wir setzten uns eine Zeit, einigten uns auf eine bestimmte Anzahl von Runden und fuhren los. Wir unternahmen auch längere Touren (wie die, bei der ich den Unfall hatte) zusammen. Die langen Trainingsläufe für einen Marathon sind schon einsam, aber ganz allein, die Hände um den Fahrradlenker gekrallt, durch die Gegend zu strampeln ist eine noch einsamere Veranstaltung. Immer wieder die gleichen Bewegungen. Bergauf, geradeaus, bergab. Manchmal mit Rückenwind, dann wieder mit Gegenwind. Man schaltet, wechselt die Haltung, überprüft die Geschwindigkeit, tritt stärker in die Pedale, lässt ein Stück rollen, überprüft die Geschwindigkeit, trinkt Wasser, schaltet, wechselt die Haltung … Mitunter kommt mir das wie eine raffinierte Form von Folter vor. Der Triathlet Dave Scott schreibt in seinem Buch: »Von allen Sportarten, die der Mensch erfunden hat, ist diese sicher die unerfreulichste.« Ich stimme ihm voll und ganz zu.
    Doch in den zwei Monaten, die mir bis zum Triathlon bleiben, muss ich auf dem Rad trainieren, ganz gleich, wie absurd es mir erscheint. Verzweifelt summe ich Bryan Adams Riff aus Eighteen ’til I Die , verfluche hin und wieder die Welt, trete in die Pedale, ziehe sie hoch und zwinge meine Beine, im richtigen Takt zu bleiben. Mein Gesicht brennt vom heißen Wind, der vom Pazifik kommt und ständig über meine Wangen streicht.
    Meine Zeit in Harvard war Ende Juni vorüber und damit auch mein Aufenthalt in Cambridge (Ade, Sam Adams Fassbier und Dunkin’ Donuts!). Ich packte also meine Sachen und kehrte Anfang Juli nach Japan zurück. Was hatte ich getan, während ich in Cambridge lebte? Ich will es gestehen: Hauptsächlich massenweise LP s gekauft. In der Gegend von Boston gibt es noch immer viele hervorragende Secondhand-Plattenläden. In jeder freien Minute durchstöberte ich auch die Plattenläden in New York und Maine. Siebzig Prozent meiner Käufe waren Jazzplatten, der Rest war Klassik und ein bisschen Rock. Ich bin ein ziemlich (oder besser gesagt extrem ) begeisterter Plattensammler. Allein diese LP s nach Japan zu verschiffen war eine Riesenaktion.
    Ich weiß nicht einmal genau, wie viele Schallplatten ich jetzt zu Hause habe. Ich habe sie nicht gezählt, allein der Gedanke macht mir Angst. Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr habe ich große Mengen von Schallplatten gekauft und mich auch vieler wieder entledigt. Die Fluktuation ist so stark, dass ich keinen Überblick über ihre Anzahl habe. Sie kommen und gehen. Die Gesamtzahl steigt, so viel ist sicher. Aber wie viele Platten ich nun wirklich besitze, spielt eigentlich keine Rolle. Die Zahl zählt nicht. Wenn man mich danach fragt, kann ich nur antworten: »Ich habe sehr viele, aber nicht genug.«
    In Der große Gatsby von Fitzgerald sagt der reiche Polospieler Tom Buchanan: »Ich habe schon gehört, dass man einen Stall zu einer Garage umbaut, aber ich bin bestimmte der Erste, der je aus einer Garage einen Pferdestall gemacht hat.« Ich will mich nicht rühmen, aber ich mache das Gleiche. Wenn ich eine hochwertige Plattenaufnahme von einem Stück entdecke, das ich auf CD habe, zögere ich nicht, die CD zu verkaufen und die LP zu erwerben. Und wenn ich eine noch bessere Aufnahme finde, die dem Original vielleicht näherkommt, tausche ich die alte LP sofort gegen eine andere ein. Das kostet viel Zeit, ganz zu schweigen vom Geld, und ich bin überzeugt, die meisten Leute würden mich als manisch bezeichnen.
    Letztes Jahr (2005) im November bin ich den New York City Marathon gelaufen. Es war ein angenehmer, sonniger Herbsttag. Einer dieser wunderschönen Tage, an denen der bereits verstorbene Mel Tormé von irgendwoher auftauchen und, gegen einen Flügel gelehnt, eine Strophe aus Autumn in New York singen könnte. Ich startete mit Tausenden von Menschen an der Verrazano-Brücke auf Staten Island, dann ging es durch Brooklyn (wo immer die Schriftstellerin Mary Morris auf mich wartet, um mich anzufeuern), durch Queens, über mehrere Brücken, und durch Harlem,

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