Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
Vollendung des Marathons. Ganz gleich, was andere sagen, das ist meine mir angeborene Art. Sie ist mir so zu eigen, wie Skorpione stechen, Zikaden an Baumstämmen sitzen, Lachse stromaufwärts an den Platz ihrer Geburt zurückschwimmen und Entenpaare einander treu bleiben.
Für mich und auch dieses Buch wäre das vielleicht ein schöner Schluss. Kein Schluss mit der Musik von Rocky und einem Sonnenuntergang, in den ich davonreiten könnte. Eher ist es ein ganz gewöhnlicher Regentagsturnschuh-Schluss, an dem der Held, wenn man so will, an einem Tiefpunkt angelangt ist. Würde man ein Drehbuch daraus machen, würde jedem Hollywood-Produzenten ein Blick auf die letzte Seite genügen, um es abzulehnen. Aber ein solcher Schluss passt zu mir.
Ich habe ja auch nicht mit dem Laufen angefangen, weil jemand gesagt hat: »He, werde doch Läufer!« Ebenso wenig wie ich Schriftsteller geworden bin, weil mich jemand dazu aufgefordert hätte. Eines Tages bekam ich plötzlich Lust, einen Roman zu schreiben, und mit dem Laufen war es ganz ähnlich. Ich habe in meinem Leben immer getan, was ich wollte. Auch wenn andere versuchen, mich davon abzuhalten, mich zu überzeugen versuchen und mich kritisieren, ändere ich meine Art nicht. Wie kann ein solcher Mensch etwas von anderen erwarten?
Ich schaue zum Himmel. Ist dort vielleicht ein Anflug von Güte zu entdecken? Nein, nichts. Ich sehe nur gleichgültige Sommerwolken, die über die Weiten des Pazifiks ziehen. Sie können mir keinen Rat geben. Wolken sind immer sehr schweigsam. Ich sollte wohl nicht zum Himmel hinaufsehen. Lieber sollte ich den Blick auf mein Inneres richten, in mich hineinspähen wie in einen tiefen Brunnen. Ist dort Güte zu entdecken? Nein. Ich sehe dort nichts als mein eigenes Wesen, mein eigentümliches, stures Naturell, unfähig zur Harmonie, selbstbezogen und doch voller Selbstzweifel, das auch noch an Traurigem versucht, das Komische – oder zumindest einen Hauch von Komik – zu entdecken. Ich schleppe diesen Charakter schon lange mit mir herum wie einen alten Koffer. Nicht dass ich ihn behielte, weil er mir so gut gefällt. Der Inhalt ist zu schwer, das Äußere ist ziemlich angeschlagen und an manchen Stellen abgewetzt. Ich führe diesen Koffer mit, weil ich keinen anderen besitze. Dennoch habe ich mittlerweile eine gewisse Zuneigung zu ihm entwickelt. Natürlich.
Im Augenblick trainiere ich jeden Tag für den Triathlon der Stadt Murakami in der Präfektur Niigata. Er findet am 1. Oktober statt. Mit anderen Worten, ich schleppe meinen alten Koffer weiter mit mir herum. Und bin wahrscheinlich auf dem Weg zu einem weiteren Tiefpunkt. Auf eine stille barocke Vollkommenheit zu – oder, bescheidener ausgedrückt, in eine »Sackgasse der Evolution«.
9
1. OKTOBER 2006
MURAKAMI, PRÄFEKTUR NIIGATA
ZUMINDEST IST ER NIE GEGANGEN
Irgendwann einmal, als niemand zu Hause war – ich glaube, ich war sechzehn –, stellte ich mich nackt vor einen großen Spiegel und nahm meinen Körper von oben bis unten genau in Augenschein. Dabei registrierte ich jedes Detail, das von der Normalität abwich und einen Mangel (oder was ich dafür hielt) darstellte. Beispielsweise fand ich meine Augenbrauen zu dick und die Form meiner Fingernägel unschön; solche Dinge eben. Soweit ich mich erinnere, umfasste die Liste siebenundzwanzig Punkte. Bei siebenundzwanzig hörte ich auf zu zählen, weil es mich anekelte. Wenn schon derartig viele sichtbare Teile meines Körpers denen normaler Menschen unterlegen waren, würde die Liste ganz sicher endlos werden, wenn ich noch andere Bereiche wie Persönlichkeit, Intelligenz, Sportlichkeit etc. ins Visier nähme.
Natürlich ist sechzehn, wie wir alle wissen, ein äußerst schwieriges Alter. Man macht sich wegen aller möglichen Kleinigkeiten verrückt, weiß nicht, wo man steht, erwirbt großes Geschick in seltsamen, nutzlosen Fertigkeiten und wird von unverständlichen Komplexen geplagt. Mit den Jahren lernt man durch Erfahrung zu bekommen, was man braucht, und abzuwerfen, was abgeworfen werden sollte. Und man erkennt allmählich (oder findet sich damit ab), dass die eigenen Fehler und Mängel schier unzählig sind und dass man besser seine Vorzüge herausfindet und lernt, mit dem, was man hat, zurechtzukommen.
Doch die Erinnerung an mein Elend, als ich mit sechzehn nackt vor dem Spiegel stand und meine Mängel auflistete, ist noch heute entscheidend für mich. Die traurige Bilanz des Menschen, der ich bin, und die zeigt, wie sehr
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