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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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eingelegt, weil Onkel Leo
abgebrannt
war?
    Ich weiß es nicht. Ich habe nie jemanden gefragt. Bald war der Besuch beendet, und meine Großmutter und ich überquerten den Kies der Auffahrt und klopften an die Hintertür, und Henrietta schrie durchs Schlüsselloch: »Gehen Sie weg, ich kann Sie sehen, was wollen Sie mir heute andrehen?« Dann riss sie die Tür auf, schloss mich in ihre knochigen Arme und rief aus: »Du kleiner Schlingel – warum hast du nicht gesagt, dass du’s bist? Und wer ist diese alte Zigeunerin, die du mitgebracht hast?«
    Meine Großmutter hielt nichts von Frauen, die rauchten, oder von Leuten, die tranken.
    Henrietta rauchte und trank.
    Meine Großmutter fand Hosen an Frauen abscheulich und Sonnenbrillen affektiert. Henrietta trug beides.
    Meine Großmutter spielte Binokel, fand es aber blasiert, Bridge zu spielen. Henrietta spielte Bridge.
    Die Liste könnte fortgesetzt werden. Henrietta war keine ungewöhnliche Frau in jener Zeit, aber eine ungewöhnliche Frau in jener Stadt.
    Sie und meine Großmutter saßen vor dem Kamin im hinteren Wohnzimmer und redeten und lachten den ganzen Nachmittag lang, während ich umherstreifte, frei, um die blau geblümte Toilette im Badezimmer zu untersuchen oder durch das Rubinglas in den Türen der Porzellanvitrine zu schauen. Henriettas Stimme war laut, und so hörte ich meistens nur sie reden. Zwischendurch lachte sie immer wieder auf – ein Gelächter, das ich heute zuordnen könnte, als Begleiterscheinung des weiblichen Eingeständnisses einer Riesendummheit oder des Berichts von einer beispiellosen (männlichen?) Treulosigkeit.
    Später bekam ich Geschichten über Henrietta zu hören, über den Mann, dem sie den Laufpass gegeben hatte, und den Mann, den sie liebte – ein verheirateter Mann, mit dem sie sich ihr ganzes Leben lang traf, und zweifellos redete sie darüber, auch über andere Dinge, von denen ich nichts weiß, und wahrscheinlich redete meine Großmutter über ihr eigenes Leben, vielleicht nicht so offen oder drastisch, aber doch in derselben Manier, wie von einer Geschichte, die sie kaum glauben und kaum als ihre eigene wahrnehmen konnte. Denn es kommt mir so vor, als hätte meine Großmutter in diesem Haus nicht so – oder nicht mehr so – geredet wie irgendwo sonst. Aber ich kam nie dazu, Henrietta zu fragen, was da gesagt und anvertraut worden war, denn sie starb bei einem Autounfall – sie fuhr immer wie von Furien gehetzt –, einige Zeit, bevor meine Großmutter starb. Und höchstwahrscheinlich hätte sie es mir sowieso nicht erzählt.
     
    Das ist alles, was ich davon weiß.
    Meine Großmutter, der Mann, den sie liebte – Leo, und der Mann, den sie heiratete – mein Großvater, lebten alle nur wenige Meilen voneinander entfernt. Sie muss mit Leo, der nur drei Jahre älter als sie war, zusammen zur Schule gegangen sein. Aber nicht mit meinem Großvater, der zehn Jahre älter war. Die beiden Männer waren Vettern und trugen denselben Familiennamen. Sie sahen sich nicht ähnlich – obwohl beide, so weit ich es zu sagen vermag, ansehnlich waren. Auf seinem Hochzeitsfoto steht mein Großvater aufrecht – er ist nur wenig größer als meine Großmutter, die für den Anlass ihre Taille auf einundsechzig Zentimeter verkleinert hat und in ihrem mit Volants besetzten weißen Kleid züchtig und sittsam aussieht. Er ist breitschultrig, robust, ernst und sieht aus, als sei er intelligent, stolz und pflichtbewusst. Und er hat sich auf dem vergrößerten Schnappschuss, den ich von ihm habe, aufgenommen, als er Ende fünfzig oder Anfang sechzig war, nicht sehr verändert. Ein Mann, der immer noch seine Kraft besitzt, seine Tüchtigkeit, ein notwendiges Maß an Umgänglichkeit und viel Verschlossenheit, ein Mann, der aus guten Gründen geachtet wird und nicht enttäuschter wirkt, als von jemandem seines Alters zu erwarten ist.
    Meine Erinnerungen an ihn stammen aus dem Jahr, das er im Bett verbrachte, dem Jahr, bevor er starb, oder man könnte auch sagen, dem Jahr, in dem er langsam starb. Mein Vater entschied sich im selben Alter und im selben Zustand für eine Operation und starb fünf Tage später, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Mein Großvater hatte keine solche Wahl.
    Ich weiß noch, dass sein Bett unten im Esszimmer stand und dass er unter seinem Kopfkissen eine Tüte mit Pfefferminzbonbons aufbewahrte, von denen meine Großmutter angeblich keine Ahnung hatte und die er mir anbot, wenn sie anderweitig

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