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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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abgeholt und will wissen, wie es uns ergeht.
    Connie ist eine Witwe mit zwei Söhnen und einer winzigen Farm ein paar Meilen weit fort. Sie arbeitet als Schwesternhelferin im Krankenhaus. Sie ist nicht nur Irlmas Nichte, sondern auch meine Kusine zweiten Grades – es war, glaube ich, durch sie, dass mein Vater Irlma näher kennenlernte. Ihre Augen sind braun und funkeln, wie die von Irlma, aber sie sind nachdenklicher, weniger fordernd. Ihr Körper ist drahtig, ihre Haut ist ausgetrocknet, die Muskeln an ihren Armen sind fest, ihre dunklen Haare sind kurz und werden langsam grau. In ihrer Stimme und in ihrem Gesichtsausdruck blitzt wiederholt Charme auf, und sie bewegt sich immer noch wie eine gute Tänzerin. Sie legt Lippenstift auf und schminkt sich die Augen, bevor sie zur Arbeit geht, und dann wieder nach der Arbeit, sie schwingt sich mit dem, was man unzulänglich als gute Laune oder Humor oder Freundlichkeit beschreiben könnte, aus einem Leben auf, in dem nicht viel zur Wahl stand, in dem das Glück sich rar machte.
    Sie trägt ihrem Sohn auf, das Gatter zu schließen – das ich hätte schließen sollen –, damit die Schafe nicht auf die untere Weide irren.
    Sie sagt, sie ist in der Stadt gewesen, um meinen Vater im Krankenhaus zu besuchen, es scheint ihm heute viel besser zu gehen, und er hat sein Abendbrot aufgegessen.
    »Du wirst doch bestimmt zu deinem eigenen Leben zurückkehren wollen«, sagt sie, als sei das das Natürlichste auf der Welt und genau das, was sie selbst an meiner Stelle wollen würde. Sie kann unmöglich etwas von meinem Leben wissen, das daraus besteht, in einem Zimmer zu sitzen und zu schreiben und manchmal auszugehen, um eine Freundin oder einen Liebhaber zu treffen, aber wenn sie es wüsste, würde sie wahrscheinlich sagen, dass ich ein Recht darauf habe.
    »Die Jungs und ich, wir können vorbeischauen und Tante Irlma zur Hand gehen. Einer von den beiden kann bei ihr bleiben, wenn sie nicht allein sein möchte. Jedenfalls kommen wir erst mal zurecht. Du kannst anrufen und nachhören, wie es steht. Du kannst am Wochenende wieder herkommen. Wie wär das?«
    »Meinst du wirklich, das geht?«
    »Ich glaube nicht, dass es so schlimm ist«, sagt sie. »Meistens ist es doch so, dass man einige Male Angst ausstehen muss, bevor – na, du weißt schon, bevor es aus ist. Jedenfalls meistens.«
    Ich denke daran, dass ich in kürzester Zeit hier sein kann, wenn es sein muss. Ich kann mir notfalls einen Mietwagen nehmen.
    »Ich werde ihn jeden Tag besuchen«, sagt sie. »Er und ich, wir sind Freunde, mit mir wird er reden. Ich werde dich garantiert alles wissen lassen. Jede Veränderung oder was.«
    Und so werden wir es wohl machen.
    Mir fällt etwas ein, das mein Vater einmal zu mir gesagt hat.
Sie hat mir meinen Glauben an die Frauen zurückgegeben
.
    Den Glauben an den Instinkt von Frauen, ihren natürlichen Instinkt, etwas Warmes und Zupackendes und Gradliniges. Etwas, das bei mir nicht zu finden ist, hatte ich erbost gedacht. Aber als ich jetzt mit Connie redete, verstand ich ein wenig besser, was er gemeint hatte. Obwohl er nicht von Connie gesprochen hatte. Sondern von Irlma.
     
    Als ich später über all das nachdenke, wird mir klar, dass genau die Ecke des Stalls, in der ich stand, um das Heu auszubreiten, und in der mich die Panik zu packen begann, der Ort meiner ersten deutlichen Kindheitserinnerung ist. In dieser Ecke führt eine steile Holztreppe zum Heuboden hinauf, und in der Szene, an die ich mich erinnere, sitze ich auf der ersten oder zweiten Stufe und schaue meinem Vater beim Melken der schwarzweißen Kuh zu. Ich weiß, in welchem Jahr das war – die schwarzweiße Kuh starb an Lungenentzündung im schlimmsten Winter meiner Kindheit, dem von 1935 . Solch ein teurer Verlust bleibt leicht in Erinnerung.
    Und da die Kuh noch am Leben ist und ich warme Sachen anhabe, einen wollenen Mantel und lange Strümpfe, und es zur Melkzeit schon dunkel ist – eine Laterne hängt an einem Nagel neben dem Stand –, ist es wahrscheinlich Spätherbst oder bald danach. Vielleicht noch im Jahr 1934 . Unmittelbar bevor uns die volle Wucht des Winters traf.
    Die Laterne hängt am Nagel. Die schwarzweiße Kuh ist besonders groß und deutlich gezeichnet, wenigstens im Vergleich zu der roten oder schmutzig-rötlichen Kuh im nächsten Stand, die länger leben wird. Mein Vater sitzt auf einem dreibeinigen Melkschemel, im Schatten der Kuh. Ich erinnere mich noch an den Rhythmus der beiden

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