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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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hörte Radio, bis die kanadischen Sender um Mitternacht verstummten, erwischte dann ferne Nachrichtensendungen, amerikanischen Jazz. Sie wartete und wartete, und mein Vater kam nicht. Das war gestern Abend passiert, also hatte sie heute zur Abendbrotzeit angerufen und mit gequältem Takt gefragt: »War das heute Abend oder gestern Abend, dass dein Vater vorbeikommen sollte?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich.
    Ich hatte immer das Gefühl, dass etwas nicht richtig oder gar nicht gemacht worden war, wenn ich die Stimme meiner Großmutter hörte. Ich hatte das Gefühl, dass unsere Familie sie enttäuscht hatte. Sie war immer noch energisch, sie sah nach dem Haus und dem Hof, sie konnte immer noch einen Sessel nach oben tragen, und sie hatte die Gesellschaft meiner Großtante, aber sie brauchte mehr – mehr Dankbarkeit, mehr Gehorsam, als ihr je zuteil wurde.
    »Ich bin seinetwegen gestern Abend aufgeblieben, aber er ist nicht gekommen.«
    »Er muss also heute Abend kommen.« Ich mochte nicht lange mit ihr reden, denn ich bereitete mich gerade auf die Schulabschlussprüfungen vor, von denen meine ganze Zukunft abhing. (Sogar heute noch, an kahlen, klaren Frühlingsabenden, wenn die Bäume ihr erstes Laub tragen, spüre ich die Erregung der Erwartungen, die an dieses bedeutsame alte Ereignis geknüpft waren, meinen Ehrgeiz, der ihm wie ein frisch geschliffenes Messer begegnen wollte.)
    Ich erzählte meiner Mutter von dem Anruf, und sie sagte: »Na, dann fahr mal besser vorbei und erinnere deinen Vater daran, sonst gibt es Ärger.«
    Immer wenn das Problem der Empfindlichkeit meiner Großmutter auftauchte, hellte sich die Stimmung meiner Mutter auf, als wäre ihr wieder ein wenig von ihrer alten Zuständigkeit oder Bedeutung in unserer Familie zugefallen. Sie litt an der Parkinsonkrankheit. Das Leiden hatte sich schon seit längerer Zeit mit wechselnden Symptomen angekündigt, war aber erst vor Kurzem diagnostiziert und für unheilbar erklärt worden. Sein Fortschreiten nahm sie mehr und mehr in Anspruch. Sie konnte nicht mehr normal gehen oder essen oder reden – ihr Körper entzog sich zunehmend ihrer Kontrolle. Doch sie hatte noch lange zu leben.
    Wenn sie so etwas zu der Situation mit meiner Großmutter sagte – wenn sie irgendetwas sagte, das Anteilnahme an uns anderen oder sogar an unseren Verrichtungen im Haus zeigte, schmolz mein Herz. Aber wenn sie bei sich selbst endete, wie dieses Mal (
und das wird mich aufregen
), verhärtete ich mich wieder, wütend auf sie wegen ihres Rückzugs, ihrer Ichbezogenheit, die ich bei einer Mutter ungehörig und schamlos fand.
    Ich war in den zwei Jahren, seit mein Vater in der Gießerei arbeitete, noch nie dort gewesen, und ich wusste nicht, wo er zu finden war. Mädchen meines Alters trieben sich nicht an Orten herum, wo Männer arbeiteten. Wenn sie das taten, wenn sie allein lange Spaziergänge entlang der Eisenbahngleise oder des Flusses unternahmen oder wenn sie allein mit dem Fahrrad auf den Feldwegen fuhren (ich tat die letzten beiden Dinge), dann hieß es manchmal, sie
bäten ja darum
.
    Ich interessierte mich ohnehin nicht sehr für die Arbeit meines Vaters in der Gießerei. Ich hatte nie erwartet, dass die Fuchsfarm uns reich machen würde, aber zumindest machte sie uns einzigartig und unabhängig. Wenn ich an meinen Vater und seine Arbeit in der Fabrik dachte, dann mit dem Empfinden, dass er eine große Niederlage erlitten hatte. Meine Mutter empfand es auch so. Dein Vater ist zu gut dafür, sagte sie immer. Aber statt ihr beizupflichten widersprach ich und ließ durchblicken, dass ihr nicht behagte, die Frau eines gewöhnlichen Arbeiters zu sein, dass sie ein Snob war.
    Was meine Mutter am meisten empörte, das war, den Weihnachtskorb der Gießerei mit Obst, Nüssen und Süßigkeiten zu erhalten. Sie konnte es nicht ertragen, zu den Empfängern und nicht zu den Verteilern solcher Dinge zu gehören, und als es zum ersten Mal geschah, mussten wir den Korb ins Auto stellen und die Straße hinunter zu einer Familie fahren, die sie als geeigneten Empfänger ausgesucht hatte. Beim nächsten Weihnachtsfest war ihre Autorität schon geschwächt, ich mauste etwas aus dem Korb und erklärte, dass wir solche Leckereien mindestens so sehr brauchten wie alle anderen. Sie wischte Tränen wegen meines scharfen Tons weg, und ich aß die Schokolade, die alt, brüchig und angegraut war.
    Ich konnte in den Gießereigebäuden nirgendwo Licht entdecken. Die Fenster waren innen blau

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