wsmt
Beispiel verheimlichten die
Schauspielerinnen, wenn sie schwanger waren. Heute lassen sie sich beim Gebären
fotografieren, oder fast. Und den erfolgreichen männlichen Kollegen will man
unbedingt andichten, daß sie es am Anfang ganz besonders schwer hatten.
Hilfsarbeiter in den Hallen müssen sie gewesen sein oder Zeitungsverkäufer,
bevor sie zur Bühne gegangen sind. Gil Andréa meinte auch, daß solch ein Lebenslauf
bei einem gewissen Publikum gut ankommt. Also ließ er ihn verbreiten. In
Wirklichkeit ist er der Sohn eines zweitklassigen Schauspielers, der sich mehr
schlecht als recht über Wasser hielt, genug für das Salz in der Suppe, damit
seine Familie nicht krepierte. Der hätte schon eher stöhnen können. War nämlich
das schwarze Schaf der Familie, weil er auf die Bretter stieg, die die Welt
bedeuten. Sein Alter, also Gils Großvater, ein Geldsack, verleugnete seinen
Sohn. Jedenfalls hat Gil mir das erzählt, als er sich mal bei mir ausweinte.
Der Journalist von dem Provinzblatt hat das alles geschrieben... Hier, der
Artikel...“
Aus der Innentasche seiner
Jacke zog er eine Brieftasche, aus der er den Zeitungsausschnitt nahm. Ein
ziemlich langer Artikel auf vergilbtem Papier, das an den Faltstellen gebrochen
war.
„...Das war das erste Mal, daß
ich mir meinen Mund nicht umsonst fusselig geredet habe. Aber viel hat das auch
nicht gebracht. Trotzdem, Andréa hat sicher getobt, falls Argus oder Lit tout oder ein anderer Ausschnittdienst
ihm den Artikel geschickt haben. Er legt Wert auf seinen Nimbus als ehemaliger
Arbeiter mit den schwieligen Händen, für die unteren Schichten...“
Er gab mir den
Zeitungsausschnitt. Ich warf einen flüchtigen Blick darauf und gab ihn zurück.
Den Artikel kannte ich schon. War in dem Ordner, den mir Mado gegeben hatte.
Nichts Neues also. Auf jeden Fall waren solche Enthüllungen bestens dazu
geeignet, den Sänger zur Weißglut zu bringen.
„...Interessiert Sie das?“
„Nicht besonders. Ist das
alles?“
„Ja. Ich kann nichts erfinden.“
Er begleitete mich hinaus. Das
Treppenhaus roch immer noch nach Bohnerwachs, Pfeffer und verwelkten Blumen.
Dazu kamen jetzt noch zwei weitere Gerüche, der eine von Ragout, der andere von
der Feuchtigkeit hier.
„Ich werde darauf warten
müssen, daß er die Leiter wieder runterfällt“, lachte Lécuyer. „Er ist Spieler.
Eines Tages wird er sein ganzes Moos am Spieltisch verlieren, und dann...“
„ Grüner Teppich, Teppich des Unglücks “, summte ich.
„Tja. Das kann aber noch lange
dauern. Er kassiert zuviel. Im Leben geht’s nicht so zu wie in den Liedern.
Gute Nacht.“ Er schloß die Tür. Ich ging langsam die Treppe hinunter. Der
Musiker setzte sich wieder ans Klavier und malträtierte es. Manchmal nannte er
sein Instrument bestimmt Gil Andréa, und dann schlug er drauf ein.
Der schäbige kalte Nieselregen
besprühte immer noch den Faubourg Saint-Martin. Die menschenleeren Bürgersteige
glänzten im Schein der Straßenlaternen und der gemütlichen Bistros. Neun Uhr.
Ich bekam Hunger und ging ins Restaurant Chien-Vert, um mir den Bauch
vollzuschlagen. Dabei dachte ich über das nach, was ich erfahren hatte, seitdem
ich mit Hélène im Café Globe gewesen war.
Nicolss
spielt wieder mit
Nachdem ich das Chien-Vert
verlassen hatte, ging ich wieder zum Boulevard de Strasbourg. Durch den Regen
hindurch leuchtete der Name Gil Andréa am Palais de Cristal auf, erlosch
wieder, immer abwechselnd, wie ein komplizenhaftes Augenzwinkern. Zu dieser
Zeit sind die braven Bürger entweder im Bett, im Theater oder im Bistro, aber
nicht auf der Straße. Vor allem nicht bei einem ständigen feinen Nieselregen.
Ich mußte mich nicht gerade durch Menschenmengen hindurchwühlen, um zu der
Stelle zu gelangen, wo ich meinen Dugat 12 geparkt hatte. Ich war mir sicher,
ihn am späten Nachmittag dort stehengelassen zu haben. Aber er war nicht mehr
da.
Ein paar Tage zuvor hatte man
eine Gruppe von Halbstarken gefaßt, die sich ihre Samstagnachmittage damit
vertrieben, fremde Autos „auszuleihen“. Sie machten eine Spritztour mit ihren
Freundinnen und brachten die Autos wieder dorthin zurück, wo sie sie hergeholt
hatten. Vielleicht war ich das Opfer solcher Witzbolde. Morgen oder übermorgen
würde ich meinen Wagen dann dort im Viertel wiederfinden. Wenn sie ihn nicht
schon wieder hier ganz in der Nähe abgestellt hatten. Ich durchforschte die
Gegend und hoffte auf ein Wunder. Eine kleine Automobilausstellung: Citroën,
Ford,
Weitere Kostenlose Bücher