Wu & Durant 02 - Am Rand der Welt
ersten Mal gebraucht.«
Stallings nahm die Einkaufstüte und folgte Espiritu vor die Hütte und die Bambusstiege hinab. Der kleinere Mann trug ein blaues Hemd locker über einer hellbraunen Baumwollhose und dazu ein Paar graue Nike-Turnschuhe, die neu aussahen.
»Ich mag das Morgengrauen, du nicht?« sagte Espiritu, während sie über die festgetretene Erde der Ansiedlung schlenderten.
»Nicht sehr.«
»Ich halte in der Morgendämmerung gern Versammlungen ab, wenn alle andern groggy sind und ich hellwach.«
»Ich merke, daß du immer noch gern ein Morgenschwätzchen hältst.«
»Du solltest lieber die Wachen bemerken«, sagte Espiritu.
»Die sind schwer zu übersehen.«
»Sie haben neue Befehle«, sagte Espiritu. »Von Carmen.«
»Ah ja?«
»Sie haben Befehl, mich nicht vom Gelände zu lassen.«
»Ist eine tolle Ehe, die du da führst, Al.«
»Eine Zweckehe, die jetzt nicht mehr zweckdienlich ist.«
Sie waren gerade an der letzten Hütte des Lagers vorbeigegangen, als Espiritu stehenblieb und sich umwandte, um Stallings anzusehen. »Über meiner rechten Schulter. Siehst du ihn?«
»Die Wache?« sagte Stallings.
»Er heißt Orestes. Ein sehr gewissenhafter Bursche, der während seiner Wache tatsächlich aufbleibt. Er ist jetzt seit Mitternacht dran, und in ungefähr zehn Minuten wird er abgelöst. Reden wir mal mit ihm.«
Stallings nickte nachdenklich, während er seine Einkaufstüte in einem kleinen Halbkreis vor und zurück schwingen ließ. »Also gehen wir jetzt, wie? Ich meine, wirklich gehen.«
»Ja. Das tun wir.«
Orestes, der Wächter, begrüßte Espiritu mit einem fröhlichen »Guten Morgen«. Er war ein kräftig gebauter Junge, nicht älter als neunzehn. Seine Ausrüstung bestand aus einer Wasserflasche und einem M-16-Gewehr. Seine Augen wirkten schläfrig.
»Lange Nacht, Orestes?« fragte Espiritu.
Der Junge grinste und nickte.
»Mir ist gerade dieses frische Bambusdickicht aufgefallen – den Weg da runter.« Espiritu zeigte in die Richtung. Orestes drehte sich um und schaute hin.
»Meinst du, jemand könnte sich den Weg raufschleichen und es als Deckung benutzen?«
»Ich weiß nicht.«
»Schauen wir mal nach.«
Alle drei gingen zehn Meter den Pfad entlang, Espiritu an der Spitze, bis sie vor dem Bambusgehölz standen. Die Schößlinge waren klein und noch lange nicht ausgewachsen. Espiritu musterte sie einen Moment und sagte dann: »Schauen wir nach, wie es auf der anderen Seite aussieht.«
Stallings und Orestes folgten ihm um das Bambusdickicht, das sie nun vor den Blicken aus dem Lager schützte. Espiritu trat ein paar Schritte zurück, als wolle er sich einen besseren Blick verschaffen. Orestes starrte hoch zu den grünen Bambusspitzen und gähnte. Er gähnte immer noch, als Espiritu ihm auf den Rücken sprang, die linke Hand auf den noch geöffneten Mund preßte und ihm mit dem Küchenmesser in der rechten Hand zweimal die Kehle durchschnitt.
Espiritu drückte den Wächter zu Boden, die linke Hand noch immer auf den Mund des sterbenden Jungen gepreßt. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß er tot war, wischte Espiritu die Messerklinge am Hemd des Jungen ab und erhob sich langsam; sein Atem ging in kurzen, schweren Zügen. Die Hand mit dem Messer, die Rechte, war völlig ruhig. Die linke Hand bebte. Etwas Speichel hatte sich in seinem linken Mundwinkel gesammelt, und er leckte ihn geistesabwesend weg.
»Jesus, Al«, sagte Stallings, als er sich bückte, um das heruntergefallene M-16-Gewehr des Wächters aufzuheben.
»Was hätte ich tun sollen? Ihn bloß ein bißchen pieksen?«
Als Stallings keine Antwort gab, streckte Espiritu die bebende linke Hand nach dem M-16 aus. »Das nehme ich«, sagte er.
»Einen Scheiß tust du«, sagte Booth Stallings.
Am selben Morgen um 6.45 Uhr saß Otherguy Overby in seinem gemieteten grauen Toyota und wartete darauf, daß der Besitzer der kleinen Reparaturwerkstatt auftauchte. Der Besitzer traf um 6.59 Uhr in einem alten allradgetriebenen Jeep ein, dessen geschlossene Karosserie nach Eigenbau aussah.
Overby stieg aus dem Toyota und ging zu dem Werkstattbesitzer. Gemeinsam umrundeten sie den Jeep. Overby trat gegen zwei Reifen, nickte, griff in eine Tasche und reichte dem Werkstattbesitzer ein Bündel Scheine. Der zählte sie schnell durch. Nachdem er sie erneut gezählt hatte, diesmal sorgfältiger, gab er Overby den Schlüssel für den Jeep. Overby sagte etwas zu dem Besitzer und deutete auf seinen geparkten Toyota. Der Besitzer
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