Wuensch dir was
drehte mich herum. »Sieh mal.«
Sie deutete auf den Spiegel aus Paris. Gemeinsam starrten wir die beiden jungen Frauen an, die dort zu sehen waren.
»Sieh dich an«, sagte sie. »Sieh nur, wie schön du bist.«
»Ich sehe aus wie du.« Ich wischte mir die Tränen ab.
Eine Weile standen wir nur da und verglichen unsere Gesichter.
»Mir war gar nicht klar, dass wir uns so ähnlich sehen«, stellte Lucy fest. »Auf diesen Schwarzweißfotos kommt das gar nicht so raus.«
»Na, und ob«, widersprach ich. »Du hast genau das gleiche Kinn wie ich. Die gleichen Wangen.«
»Hey, du bist größer als ich«, bemerkte sie. »Gestern war das noch umgekehrt.«
»Ganz recht«, pflichtete ich ihr bei. »Ich bin mit den Jahren geschrumpft.«
»Man schrumpft, wenn man älter wird?«
»Eigentlich ist es mehr ein Schrumpeln«, klagte ich. »Hör auf mich, Lucy, und trink viel Milch! Das ist das Gesündeste, was du für deine Knochen tun kannst.«
»Ich dachte, Sonnenbäder wären das Gesündeste«, flachste sie.
»Im Gegenteil«, belehrte ich sie ernst. »Mit der Sonne ist nicht zu spaßen. Die Sonne ist das reinste Gift für die Haut, Lucy. Für meine Freundin Harriet war sie sogar töd…«
»Ich weiß, das hast du mir schon tausendmal erzählt.« Sie legte mir den Zeigefinger auf den Mund. »Das sollte ein Scherz sein.«
»Ah. Siehst du? Wieder ein Beweis dafür, dass ich wirklich deine Großmutter bin.«
»Hm.« Sie lachte. »Vielleicht war es ja doch keine so tolle Idee, den ganzen Tag mit dir zu verbringen.«
»Zu spät. Jetzt, wo du mich überzeugt hast, wirst du mich vor Mitternacht nicht mehr los.«
»Meine Güte, Gram, das war wieder bloß ein Scherz.«
»Ach so. Gut, dann lass uns gleich einen Termin bei deinem Friseur machen«, bat ich sie. »Meinen kann ich vergessen, der kennt sich bloß mit lilablassblauen Haaren aus. Nach dem Mittagessen gehen wir in einen Unterwäscheladen, und dann …« Ich kicherte. »Wer weiß, vielleicht lachen wir uns ja ein paar hübsche Knaben an.«
Lucy verdrehte die Augen.
»He, heute ist mein Tag.«
»Okay, wie du willst.« Sie zuckte die Achseln.
Ich betrachtete mich ein letztes Mal im Spiegel. »Vergiss nicht, heute darf ich egoistisch sein, und ich bestimme, was wir machen.«
»Jetzt klingst du wie eine Frau meiner Generation«, stellte sie fest.
Ich lachte. »Das bin ich heute auch, darauf kannst du deinen Arsch verwetten.«
Sie riss entsetzt die Augen auf. »Was sind denn das für Töne von meiner Großmutter?«
»Wart’s nur ab, das ist erst die Spitze des Eisbergs. Du wirst heute noch eine ganze Menge über mich erfahren. So, und nun los«, befahl ich. »Es ist höchste Zeit. Um Mitternacht muss Aschenputtel wieder zu Hause sein!«
Frida
F rida Freedburg war ein chronisch ängstlicher Mensch.
Ihrer Ansicht nach verdankte sie diesen Charakterzug ihrer Mutter Hannah, die sie jeden Morgen derart ungestüm geweckt hatte, dass Frida bis an ihr Lebensende traumatisiert war.
»Frida?«, hatte ihre Mutter geflüstert, wenn sie auf leisen Sohlen das Zimmer betreten hatte, in dem Frida selig schlummerte.
»Frida?«, hatte sie dann, schon etwas lauter, wiederholt.
»FRIDA!«, hatte sie schließlich aus vollem Hals gekreischt. »DU KOMMST ZU SPÄT ZUR SCHULE, UND DANN WIRST DU NIE DEINEN ABSCHLUSS MACHEN ODER EINEN NETTEN MANN KENNENLERNEN!«
Inzwischen war Fridas Mutter seit fünfzig Jahren unter der Erde, und trotzdem hatte Frida, wenn sie morgens erwachte, noch immer ihr schrilles Geschrei im Ohr, und jedes Mal zuckte sie innerlich zusammen. Fridas Verhältnis zu ihrer Mutter war also nicht ganz
ungetrübt gewesen, doch sie hatte mit keiner Menschenseele je über dieses Thema gesprochen – nicht einmal mit ihrem Gatten Sol, und schon gar nicht mit ihrer besten Freundin Ellie. Der konnte man derart persönliche Angelegenheiten nicht anvertrauen, denn im Gegensatz zu Frida war Ellie nicht in der Lage, ein Geheimnis zu bewahren.
Wie dem auch sei, Frida konnte nicht leugnen, dass sie sich chronisch ängstigte, und der heutige Tag bildete da keine Ausnahme.
Ellie hatte nämlich frühmorgens angerufen und etwas durcheinander geklungen, und sie hatte sehr merkwürdige Fragen gestellt. Waren das womöglich die ersten Anzeichen von Alzheimer? Gott bewahre. Also hatte Frida beschlossen, Ellie einen kurzen Besuch abzustatten. Zum Glück wohnten sie im selben Haus, so dass sie lediglich im Aufzug ein paar Etagen nach unten fahren musste. Doch anstelle ihrer Freundin
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