Wuensch dir was
sagen, wo meine Mutter ist?«, heulte Barbara.
Wer war diese Frau? War das wirklich meine Tochter?
»Du musst atmen, Mom, wie wir das immer tun. Einatmen … ausatmen … und ein … und aus.« Lucy drückte ihre Mutter weiter an sich.
»Ich schwöre dir, Lucy, wenn deiner Großmutter irgendetwas zugestoßen ist, dann stürze ich mich aus dem Fenster. Das kannst du mir glauben«, schluchzte Barbara.
»Mom, Grandmom ist eine starke Frau, genau wie du. Es geht ihr gut Mom. Es geht ihr gut. Insgeheim musst du das doch wissen.«
Ich hatte angefangen, im Zimmer auf und ab zu tigern. Das war ja nicht auszuhalten! Wie konnte ich das meiner Tochter nur antun?
»Es geht ihr gut!«, rief ich. »Es geht ihr blendend. Sie ist einen Tag lang untergetaucht und wollte nicht, dass irgendjemand davon erfährt!« Ich schrie es heraus, als wäre es ein Geheimnis, das ich nicht länger für mich behalten konnte.
»Wo ist sie denn hin?«, fragte Frida.
»Untergetaucht«, wiederholte ich. Mir wollte beim besten Willen keine bessere Antwort einfallen.
»Und wer bist du?«, fragte Frida. Ich sah zu Lucy.
»Sie ist meine Freundin!«, antwortete Lucy. »Wie oft soll ich euch das noch sagen? Du weißt nicht jedes Detail über mein Leben, Mom. Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass ich Freunde haben könnte, die du nicht kennst?«
Barbara überlegte.
»Aber wir telefonieren jeden Tag«, erwiderte sie.
»Mal ganz ehrlich, sieht diese Frau« – Lucy deutete auf mich – »für dich wirklich aus wie jemand, der Grandmom etwas angetan hat? Denk doch mal vernünftig darüber nach, um Himmels willen.«
»Aber dieses seltsame Telefonat heute früh …« Barbara klang wie ein kleines Kind. »Erst hat Mom behauptet, sie hätte eine Maus gesehen, und dann hat sie mich angelogen und gesagt, dass sie mit Frida zum Lunch verabredet ist.«
»Und zu mir hat sie gesagt, dass sie mit Barbara zum Lunch verabredet ist«, fügte Frida hinzu.
»Ach, und daraus schließt ihr gleich, dass sie entführt worden ist?«, fragte Lucy.
Barbara und Frida schwiegen betreten und kamen sich sichtlich albern vor. Sie taten mir fast ein wenig leid. So betrachtet war ihre Angst um mich wirklich lächerlich. Ich war hin und her gerissen. Einerseits hätte ich ihnen gern gesagt, sie sollten endlich aufhören, sich grundlos Sorgen zu machen, und mich endlich in Ruhe lassen, andererseits sah ich nur den Kummer in den Augen meines Kindes und hatte den dringenden Wunsch, etwas dagegen zu unternehmen. Ich hätte etwas sagen können; ich wollte etwas sagen, aber mein anderes Ich zog es vor, den Mund zu halten. Es war mein Tag, und ich hatte nur diesen einen zur Verfügung. Und wenn ich den beiden die Wahrheit sagte, dann würde ich die verbleibenden Stunden aller Wahrscheinlichkeit nach in einer Irrenanstalt verbringen.
»Mom, Tante Frida, ich werde euch jetzt etwas sagen, für das ihr mich vermutlich hassen werdet, aber es muss sein.«
»Vielleicht solltest du es lieber bleiben lassen, Lucy«, wehrte Frida besorgt ab.
»Nein, ich werde es sagen, auch wenn es wehtut, Tante Frida.«
»Wenn es unbedingt sein muss … Obwohl ich nicht ganz verstehe, warum du mir unbedingt wehtun willst, noch dazu nach allem, was ich heute durchgemacht habe …«, brummte Frida.
Lucy tätschelte ihr lächelnd die Schulter. »So schlimm wird es nun auch wieder nicht.«
»Na gut.«
Lucy wandte sich ab, als müsste sie sich die nächsten Worte sorgfältig zurechtlegen. Dann drehte sie sich mit todernster Miene wieder zu uns um.
»Also. Mom, Tante Frida: Fangt an, euer eigenes Leben zu leben!«
»Und was, bitte schön, soll das heißen?«, fragte Barbara beleidigt.
»Mom! Du und Tante Frida, ihr wart heute den ganzen Tag völlig panisch, und weshalb? Weil deine Mutter mal einen Tag allein verbringen wollte! Was kümmert dich das überhaupt?«
»Genau!«, rief ich mit erhobenem Zeigefinger. »Danke, Lucy.«
»Pass bloß auf!«, fauchte mich Barbara an. »Du hast keine Ahnung, worum es hier geht. Wir reden hier von meiner Mutter.«
»Ganz recht! Sie ist deine Mutter!«, konterte Lucy. »Sie ist fünfundsiebzig Jahre alt, und sie hat ihr ganzes Leben lang getan, was sie tun musste. Wenn ich Gram zu irgendetwas beglückwünsche, dann dazu, dass sie im Gegensatz zu dir ihr eigenes Leben lebt. Sie hat sich von dir gelöst. Du dagegen, du bist fünfundfünfzig und versuchst immer noch, deiner Mutter alles recht zu machen. Findest du nicht, es ist allmählich an der Zeit, damit
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