Wuensch dir was
noch nicht fertig. »Tante Frida, es tut mir leid, dass ich dich den ganzen Tag herumgescheucht habe.«
Frida lächelte. »Und mir tut es leid, dass ich dich angebrüllt habe, Barbara.«
»Barbara angebrüllt?«, platzte ich unwillkürlich heraus. »Meine Güte, wer hätte gedacht, dass es je so weit kommen würde!«
Barbara sah von Frida zu mir. »Kennt ihr zwei euch denn schon länger?«
»Nein, nein«, sagte ich hastig. »Ich hatte bloß den Eindruck, dass Frida ein eher zurückhaltender Mensch ist, und …« Ich rang nach den richtigen Worten. »Und Sie, Barbara, sind eine starke, wunderbare Frau.« Ich lächelte meine Tochter an.
Sie lächelte zurück. »Danke. Das ist sehr freundlich.«
»Es ist wahr.« Ich strahlte sie an.
»Es ist mehr als wahr, Mom. Vielleicht sagen Gram und ich dir das bloß nicht oft genug.«
Barbara schniefte und seufzte, dann sah sie zu Lucy hoch, die sie noch immer in den Armen hielt, und lächelte. » Wie kommt es nur, dass du so klug bist?«, fragte sie.
Und da ging mir ein Licht auf. Es war wie in diesem Film mit dem unsichtbaren Mann. Ich war da, wurde aber nicht wahrgenommen. Ich konnte mit ansehen, wie meine Tochter vor meinen Augen erwachsen wurde, wie meine beste Freundin plötzlich aufhörte, sich Sorgen zu machen. Und in dem Moment, in dem Barbara Lucy die Frage stellte, die ich ihr auch immer stellte – »Wie kommt es nur, dass du so klug bist?« -,
da erfasste mich plötzlich eine tiefe Niedergeschlagenheit.
In diesem Augenblick, als ich unsichtbar war, sah ich in der Gestalt meiner Enkelin mein Lebenswerk vor mir.
Lucy verdankte ihre Klugheit weder ihrem Alter noch den Erfahrungen, die sie bereits gemacht hatte, sondern einzig und allein einem Menschen. Ihrer Mutter.
»Lucy ist dank Ihrer Erziehung so klug«, sagte ich zu Barbara. »Das haben Sie großartig hingekriegt.«
Wieder lächelte mich Barbara an.
Lucy stiegen Tränen in die Augen. Sie sah mich an und flüsterte unhörbar »Ich liebe dich«.
Sogleich bekam ich ebenfalls feuchte Augen. »Ich dich auch«, erwiderte ich ebenso unhörbar.
»Vielen Dank.« Barbara lächelte und wollte Lucy gar nicht mehr loslassen.
Ich sah zu Frida, die sich auch eine Träne von der Wange wischte.
»Was ist denn los, Frida?«, fragte ich.
»Kann ich dich einen Moment allein sprechen?«, bat sie und sah mir geradewegs in die Augen.
»Natürlich.« Ich streckte ihr meinen Ellbogen hin, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
Barbara drückte Lucy noch immer an sich. Sie sah verändert aus, als hätte sie kapituliert; als hätte sie den Teil von sich, der sie so lange unglücklich gemacht hatte, endlich losgelassen.
Ich war am Boden zerstört.
Da hatte ich seit ihrer Geburt tagtäglich mit meiner Tochter gesprochen, aber erst, als ich mich aus ihrem Leben zurückgezogen hatte, war es mir endlich gelungen, zu ihr durchzudringen.
Frida drückte meinen Arm, ging mit mir in mein Schlafzimmer und schloss bedächtig die Tür, während ich auf das Bett sank. Sie kam auf mich zu und setzte sich neben mich.
»Geh«, sagte sie und nahm meine Hände.
»Auf keinen Fall. Ich kann mich doch nicht einfach aus dem Staub machen, wo hier alle in einem solchen Zustand sind.«
»Geh.« Sie drückte meine Hände. »Geh und amüsier dich.«
»Ich kann nicht«, stieß ich hervor. »Ich bin hin und her gerissen. Ich würde furchtbar gern gehen.«
»Dann geh und überlass alles andere mir.«
Nun konnte man diesen Dialog auf verschiedenste Art und Weise interpretieren. Zum Beispiel dahingehend, dass Frida dieser Fremden, die neben ihr saß, nicht über den Weg traute. Dass sie sie für einen bösen Menschen hielt, sie schnellstmöglich loswerden wollte und ihr nun deshalb durch die Blume zu verstehen gab: »Geh, verschwinde und komm nie wieder.«
Vielleicht war Frida aber auch der Ansicht, dass sich eine junge Frau nicht mit den Problemen anderer Leute, die sie zum Teil gar nicht kannte, belasten sollte,
weil sie aller Wahrscheinlichkeit nach genügend eigene Probleme hatte:
»Geh, das brauchst du dir nicht anzutun.«
Und dann gab es natürlich noch eine dritte Interpretationsmöglichkeit – die einleuchtendste. Jedenfalls leuchtete sie mir ein, vor allem, wenn ich bedachte, wie sie mich vorhin angesehen hatte:
»Ich weiß, dass du es bist. Du hast ein Geschenk erhalten, und ich möchte, dass du es auskostest. Ich verstehe dich. Geh.«
»Zuweilen brauchen wir alle ein bisschen Freiheit, ohne ständig mit Fragen bombardiert zu werden
Weitere Kostenlose Bücher