Wuensch dir was
oder uns um die Probleme anderer Leute kümmern zu müssen«, sagte sie leise. »Manchmal muss man ganz einfach die Tür hinter sich schließen und sich eine Auszeit nehmen.«
Ich holte tief Luft. »Aber wenn ich jetzt gehe, dann will ich womöglich nicht mehr zurückkommen.«
»Das musst du allein entscheiden.« Sie streichelte meinen Arm. »Ich für meinen Teil weiß, dass du hier zu viel zurücklässt, um für immer zu gehen. Aber es ist gut möglich, dass du das anders siehst. Im Augenblick gibt es darauf keine richtige Antwort. Im Augenblick musst du einfach nur gehen.«
Meine Freundin starrte mir mit einer Eindringlichkeit in die Augen, wie ich sie an ihr noch nie erlebt hatte. Sie wusste Bescheid, und ich wusste, dass sie es wusste.
»Du weißt, dass ich es bin?«, fragte ich schließlich.
»Natürlich weiß ich, dass du es bist«, stellte sie nüchtern fest.
»Wie bist du dahintergekommen?«
»Ich hatte schon heute Morgen einen Verdacht, doch dann dachte ich, dass bei mir eine Schraube locker ist. Aber du wusstest von meinem Blutzuckerspiegel und meinen entzündeten Fußballen, und dann die kleine Ansprache über deine Mutter gerade eben … Ich kenne diese Frau nur zu gut. Den Ausschlag gegeben hat allerdings deine Reaktion vorhin, als du gehört hast, dass ich Barbara angebrüllt habe. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass bei mir eine Schraube locker ist.«
»Da könntest du Recht haben.« Ich lachte, und sie stimmte mit ein. Die Katze war aus dem Sack, und es war ein tolles Gefühl. Ich atmete erleichtert auf. »Ich war sicher, dass dich der Schlag treffen würde, wenn du es herausfindest.«
»In unserem Alter gibt es doch kaum etwas, das uns noch so richtig schockieren kann.«
»Auch wieder wahr.«
»Aber wie …?« Sie sah auf unsere Hände hinunter, die eine glatt, ohne Falten oder Schwielen, die andere so, wie eine fünfundsiebzigjährige Hand nun einmal aussieht. »Wie hast du es angestellt?«
»Wenn ich das wüsste, Frida, dann würde ich das Geheimnis auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Als ich heute Morgen aufgewacht bin und in den Spiegel sah, dachte ich erst, ich wäre gestorben.«
»Spürst du das?«
Sie drückte meine Hand und musterte mich gespannt.
»Natürlich«, sagte ich.
»Tja, dann bin vielleicht ich gestorben. Würde mich nicht überraschen. Der heutige Tag war wirklich die Hölle.«
Jetzt drückte ich ihre Hand.
»Spürst du das?«
Sie lächelte leicht. »Ich bin nicht tot.«
Dann legte sie mir die Hand auf die Wange. »Lass dich mal ansehen.«
»Und, was sagst du dazu?«, fragte ich.
»Es ist, als würde ich einen Blick in die Vergangenheit werfen«, flüsterte sie, während ihre Fingerspitzen meine Wangenknochen betasteten. »Wenn ich dich anschaue, dann sehe ich mich selbst, wie ich früher war.«
»Vielleicht ist es ja ein Virus, und du wachst morgen auch auf und bist neunundzwanzig«, scherzte ich.
»Oh, das hoffe ich nicht.« Sie ließ die Hand sinken.
»Warum nicht?«
Sie sah auf unsere Hände und dann in meine Augen. »Weil ich mein Leben gelebt habe. Ich habe kein Bedürfnis, die Zeit zurückzudrehen und all diese Erfahrungen noch einmal zu machen«, entgegnete sie zu meiner Überraschung.
»Willst du etwa behaupten, wenn man dir diese Chance bieten würde, dann würdest du sie nicht ergreifen?«
»Ellie«, sagte sie ruhig. »In dieser Hinsicht waren wir immer verschieden. Ich will gar nicht jünger sein oder aussehen. Mich hat das Altwerden nie gestört. Außerdem würde mir Sol schrecklich fehlen. Ich könnte nicht noch einmal jung sein ohne ihn an meiner Seite. Wir zwei gegen den Rest der Welt, das war damals unser Motto. Ohne ihn hätte es keinen Sinn. Nein …« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist dein Wunsch, nicht meiner.«
»Aber stell dir doch mal vor, du könntest dich wieder schön fühlen, frei von Schmerzen und so voller Energie, dass du am liebsten die ganze Welt erobern würdest! Wäre das nicht verlockend?«
»Wer sagt denn, dass ich mich nicht auch so schön fühlen kann?« Frida zog ihr T-Shirt zurecht. »Außerdem geht es doch gar nicht um die äußere Schönheit, sondern um die innere. Ich fühle mich nicht gern alt, und es geht mir gegen den Strich, aber das kann ich ändern, und genau das werde ich tun. Und was den Rest angeht: Das hab ich alles schon erlebt. Du kennst mich doch; ich sehe mir schon im Fernsehen nicht gern Wiederholungen an. Einmal reicht. Was vorbei ist, ist vorbei.«
»Es gibt also nichts, das du
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